Memento mortuorum. Memento mori.

Admiralin Jocelyn J. Piquet legte ihren Finger auf die Berührfläche ihres Schreibtischs. Routine. Eine Bestätigung über ihren Fingerabdruck, dass die Tür ihres Büros auf der Raumstation SKYTOWN geöffnet werden sollte. Es hatte geläutet, jemand stand vor der Tür und begehrte Einlass. Piquet hatte sich durch einen Blick auf den Überwachungsmonitor vergewissert, wer es war. Jetzt erhob sie sich von ihrem Sitz und kam hinter ihrem massiven Schreibtisch hervor, während die mechanische Tür auseinanderglitt. Ein Mann, der wohl etwas über sechzig Jahre alt sein durfte, mit grauen, kurz gehaltenen Haaren, kam freundlich lächelnd herein. Er trug seine Galauniform.

„Oh“, sagte Piquet, „gleich so förmlich?“

„Die Nachricht besagte, es wird offiziell“, gab der Mann zurück. Ein Offizier der Raumflotte hätte erkannt, dass er die Insignien eines Kapitäns trug, zusammen mit einer Medaille. Die Medaille war ihm für besondere Leistungen verliehen worden. Aber das schien eine Ewigkeit her zu sein.

„Ich weiß“, gab Piquet zurück. „Ich habe sie persönlich verfasst. Ich muss auch gleich entschuldigen“, fuhr sie fort, während der Mann den Raum betrat und sich die automatische Tür hinter ihm schloss, „dass wir keine Möglichkeit haben, die offizielle Form einzuhalten. Aber ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.“

Die Türklingel ging. „Erwarten Sie noch einen Gast?“, fragte der Mann.

„Ja.“ Die Admiralin ging zurück an ihrem Schreibtisch und betätigte die Türöffnung. Jeff Holland stand davor und blickte verdutzt.

„Ich hätte jetzt einen Wachposten erwartet“, sagte er. „Ich dachte, es wird offiziell.“

„Wird es auch“, bestätigte Piquet. „Kommen Sie herein!“

Holland kam herein und baute sich neben dem Kapitän auf. Derselbe kam Holland irgendwoher bekannt vor, aber er konnte es nicht genau sagen.

„Commander Holland“, sagte Piquet, „Sie kennen Captain Jonathan Bogenschütz?“

„Bogenschütz!“, entfuhr es Holland. „Jetzt! Sie waren an Bord der POCHTLI, nach der… Affaire… richtig?“

Bogenschütz grinste und streckte Holland die Hand hin. „Freut mich, Commander, dass man mich nicht vergessen hat“, sagte er. „Holland, hm? Sie haben viel für die Flotte und den ASTROCOHORS CLUB getan, habe ich gehört.“

„Es wundert mich, dass Sie überhaupt von mir gehört haben“, gab Holland zurück. „Ich habe das Gefühl, dass ich mich seit zehn Jahren nicht mehr vorwärtsbewege. Viele Dinge wurden entdeckt, aber bisher so gut wie nichts aufgedeckt.“

„Aber Sie sind hartnäckig“, meinte der Captain. „Das gefällt mir!“

„Gentlemen“, unterbrach Piquet, „es liegt mir fern, Ihre kleine Plauderei abzuwürgen, aber wir haben eine Pflicht zu erledigen.“

„Oh ja, sorry“, sagte Bogenschütz, „worum geht es?“

„Sie haben beide mitbekommen, dass der ASTROCOHORS CLUB derzeit führerlos ist?“

Die beiden Männer nickten. „Allerdings wurde nie so wirklich rausgelassen, warum Yefimov so plötzlich hingeworfen hat“, stellte Holland fest.

„Das wird auch einige Zeit so bleiben“, stellte die Admiralin fest. „Ich versuche mal eine Metapher. Kennen Sie die Geschichte von Herrn Turtur?“

Holland und Bogenschütz sahen sich gegenseitig fragend an. „Meinen Sie den aus ‚Jim Knopf‘?“, fragte Holland schließlich.

„Genau den. Sie sehen so aus, als wären Sie nicht mit ihm vertraut, Captain?“

Bogenschütz schüttelte den Kopf.

„Dann hören Sie zu“, erzählte Piquet. „In der Geschichte von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer sind die beiden in der Wüste unterwegs und treffen auf einen Riesen. Jim will fliehen, weil er Angst hat, aber Lukas fällt etwas auf. Der Riese ruft ihnen nämlich etwas zu, ist aber kaum zu verstehen. Und bei der Größe, die er hat, müsste seine Stimme eigentlich laut klingen, wie ein Donnerwetter. Also lassen sie den Riesen, der Herr Turtur heißt, näherkommen. Und beim Näherkommen bemerken sie etwas sehr Merkwürdiges: Herr Turtur wird nämlich immer kleiner, je näher er den beiden ist. Als er sie erreicht, ist er sogar noch kleiner als Lukas. Herr Turtur ist ein Scheinriese, erklärt er. Würde ein normaler Mensch aufstehen und weggehen, würde er für die Leute, die zurückbleiben, immer kleiner und kleiner werden. Bei Herrn Turtur ist das umgekehrt.“

„Und das soll uns jetzt genau… was sagen?“, wollte Holland wissen.

„Ich kannte Yefimov lange Zeit, doch erst als ich in die oberen Ränge aufgestiegen bin, habe ich eng mit ihm zusammengearbeitet“, erklärte sie. „Er hatte eine großartige Reputation, das wusste ich vorher. Aber um einen Scheinriesen zu erkennen, muss man sehr nahe an ihm dran sein. Und mehr kann und möchte ich nicht sagen.“

Die beiden Herren nickten wissend.

„Und wie dem auch sei“, fuhr sie fort, „jetzt sind wir hier. Noch dazu an diesem Tag.“

Jeff zog die Stirn kraus. „Was ist denn mit diesem Tag?“

„Dass ausgerechnet Sie diese Frage stellen?“, gab Piquet zurück. „Ich sehe Ihnen deutlich an, dass der Groschen schon gefallen ist.“

Der Commander öffnete den Mund. Es dauerte aber einen Moment, bis sich ein Wort über seine Lippen traute: „Fina… Serafina?“

„Genau!“

„Schon, dass in dem Raum alle besser Bescheid wissen als ich“, beklagte sich Bogenschütz. „Erst der Scheinriese, jetzt diese Serafina… klärt mich jemand auf?“

„Erzählen Sie’s ihm“, forderte Piquet.


Jeff begann, eine tragische Geschichte zu erzählen, die sich nunmehr zum zwanzigsten Mal jährte. Er selbst hielt es für nicht groß genug, dass sich jemand anderes daran erinnerte. An dem Tag war der Geburtstag einer jungen Offizierin gewesen, der dreißigste. Ihr Name war Serafina Branca gewesen. Bogenschütz fiel auf, dass Holland bei der Erzählung von ihr in der Vergangenheit sprach, was ihn vermuten ließ, dass die Geschichte auf ein trauriges Ende hinauslaufen würde. Damals, im Jahr 3038 galaktischer Zeitrechnung, war Holland selbst noch junger Lieutenant. Er hatte Fina, so wurde sie von den engsten Freunden genannt, als er für eine Mission auf dem Planeten Palludevi II angeheuert hatte. Die NOORANAH war dorthin gegangen, um eine medizinische Station aufzubauen. Palludevi lag mitten im so genannten Brachland, was eine andere, lange, traurige Geschichte über korrupte Regierungen war und nicht hierhergehörte. Zu dem Zeitpunkt im Jahr 3038 war die NOORANAH schon einige Zeit dort. Fina war Offizierin der medizinischen Abteilung gewesen und sie und Jeff verstanden sich auf Anhieb gut. Sie fingen an, privat Dinge zu unternehmen, was auf Palludevi gar nicht so einfach war. Es gab dort nicht viel, auch wenn verschiedene Firmen anfingen, Niederlassungen in die Graslandschaft zu setzen. An ihrem dreißigsten Geburtstag hatten Jeff und sie sich getroffen und in sehr kleiner Runde gefeiert, so wie ihr das am liebsten war. Es war ein schöner Tag. Jeff ahnte allerdings nicht, dass es der letzte gewesen sein sollte.

Ein paar Tage später meldete sich Fina bei ihm. Die NOORANAH hatte einen Container mit Matrimoniumkristallen erhalten, aber irgendwas stimmte mit dem Behälter nicht. Er war nicht in den Frachtraum des Schiffes übernommen worden, denn er sollte nach einer kurzen Kontrolle direkt auf die Oberfläche von Palludevi weitergeleitet werden. Es gab allerdings massive Probleme. Der Container war an eine Außenbucht der NOORANAH angedockt worden, doch er ließ sich nicht zur Kontrolle öffnen. Er ließ sich aber auch nicht mehr aus der Andockbucht entfernen, denn irgendwie war das Metall des Containers verbogen.

Jeff blickte auf den Kontrollmonitor des Hauptfrachtraums. Er kratzte sich am Kinn.

„Siehst Du es?“, fragte Fina und blies sich eine ihrer blonden Locken aus dem Gesicht.

„Sieht so aus“, überlegte Jeff, „als seien die Kristalle ungleich verteilt. Irgendwas muss den Container ordentlich durchgeschüttelt haben.“

„So weit sind wir auch“, sagte sie. „Das ruft doch nach einem Weltraumspaziergang, oder?“

„Tut es“, stellte Holland fest. „Und deswegen hast Du mich hergerufen?“

„Ja“, grinste sie. „Du hast mir erzählt, dass Du solche Missionen schon gemacht hast und gern mal wieder im Weltraum arbeiten würdest. Da hab ich gedacht, ich fordere Dich mal an.“

„Wann habe ich Dir das denn erzählt?“

„Bei unserem vorletzten Treffen, als wir spätabends den Sternenhimmel von Palludevi betrachtet haben.“ Sie ging mit dem Kopf nah an seinen heran. „Müssen wir übrigens wieder mal machen“, flüsterte sie und fuhr in normaler Lautstärke fort: „Ehm, ja, wir müssen also im Raumanzug auf die Außenhülle der NOORANAH und sehen, ob wir den Container dort entriegeln können. Ich habe das ‚Go‘ von Commander Orikan, sowohl für die Mission als auch für eventuell notwendige Maßnahmen.“

„Du hast ihr hoffentlich erzählt, dass das unter Umständen bedeuten kann, die Matrimoniumkristalle ins Weltall zu entlassen.“

„Ja, habe ich. Sie bestand darauf, noch einen Offizier mitzunehmen.“ Sie drehte sich um und rief in den hinteren Bereich des Frachtraums: „Commander?“

Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren mit blasser Haut und kurzen Haaren kam zu den beiden.

„Jeff“, stellte Fina vor, „das ist Lieutenant Commander Colligazio, einer der Techniker.“

„Nennen Sie mich Friedmann!“, sagte er. Er und Jeff schüttelten die Hände zur Begrüßung. „Ich soll mit raus und dafür sorgen, dass wir das störrische Ding aufkriegen.“

Die Vorbereitung brauchte etwas Zeit. Die drei zogen Raumanzüge an und gingen dann zu einer Luftschleuse raus auf die Außenhülle der NOORANAH. Sie waren ganz in der Nähe der äußeren Andockbuchten. Sie hakten sich jeder mit einem Sicherungsseil an einer Führungsstange ein und aktivierten die Magnetstiefel. Dann konnten Sie auf der Oberfläche des Raumschiffs laufen, bis sie den Container erreicht hatten.

„Oh je“, hörte man Colligazio über den Funk, „der sieht ja wirklich übel aus. Kein Wunder, dass da nichts mehr geht.“

Der Container war verbeult. Jeff machte das stutzig. Es sah aus, als hätte eine gewaltige Kraft von Innen gewirkt. Als hätte etwas sehr Kräftiges versucht, zu entkommen. Er öffnete eine Wartungsluke an der Bucht, um an ein Computerterminal zu kommen.

„Das haben wir vom Frachtraum aus nicht bemerkt“, murmelte er mehr, als dass er es sagte. „Wieso zeigen die Scanner nichts an? Es sieht so aus, als ob der Container noch unter Druck steht.“

„Wartet“, sagte Colligazio, „ich prüfe das nach.“

Er ging vorwärts, bis er den Container erreicht hatte. Dann zog er einen Handscanner heraus und überprüfte die Anzeigen. „Wird kein Druck angezeigt“, stellte er fest. „Ich vermute, dass irgendeine Reaktion stattgefunden hat, die jetzt beendet ist. Ich schau mir das mal aus der Nähe an.“

Er löste das Sicherungsseil, denn auf der Oberfläche des Containers gab es keine Sicherungsstangen. Aber die Magnetstiefel sollten ihn halten. Er trat nun auf den Container, auf dessen Vorderseite, die in den Weltraum gerichtet war. Hier befand sich in der Mitte eine Luke. Er ging bis zu dieser Luke, immer vorsichtig darauf achtend, dass mindestens einer seiner Magnetstiefel Kontakt mit dem Metall des Behälters hatte.

„Moment“, hörten Fina und Jeff ihn sagen, „jetzt habe ich eine…“

Sein Satz wurde von einem Schrei unterbrochen. Man konnte eine Entladung sehen, die durch Colligazio hindurchgegangen war. Mit einem plötzlichen Ruck löste er sich von der Oberfläche des Containers und hob ab, in Richtung freien Weltraum. Fina entriegelte die Rolle ihres Sicherungsseils, so dass sie mehr davon abrollen konnte.

„Ich versuche, ob ich ihn eingefangen kriege“, sagte sie, deaktivierte ihre Magnetstiefel und stieß sich ab.

„Was?“, entfuhr es Jeff, der viel zu perplex gewesen war, um schneller zu reagieren. Doch schon schwebte sie in Richtung des Commanders, der bewusstlos zu sein schien. „Fina!“ rief Jeff in den Funk. „Das ist zu gefährlich!“

„Ich fang ihn nur ein“, sagte sie ruhig, „dann rolle ich das Sicherheitsseil wieder ein und komme zurück. Wir können ihn nicht da hängenlassen.“

Jeff wollte noch irgendwas sagen, aber er wusste nicht was. Und dann hörte er das Signal. Das Computerterminal, an dem er eben gearbeitet hatte, gab einen Warnton von sich. Jeff sah auf die Anzeigen. Er fuhr herum und griff mit beiden Händen an Finas Sicherungsseil.

„Fina!“, schrie er. „Sofort zurück! Sofort zurück! Das ist ein…“

Was genau passiert war, hatte Jeff nicht sehen können. Es hatte einen gleißenden Lichtschein gegeben, der ihn blendete. Es dauerte lange, bis seine Augen sich wieder an normales Sehen gewöhnt hatte, doch da war schon die Schiffsärztin bei ihm und kleine Fähren kreisten über der Unglücksstelle. Während seine Sicht besser wurde, erkannte Jeff, dass Finas Sicherungsseil ins Nichts führte.


Captain Jonathan Bogenschütz

Jeff war nach all den Jahren immer noch sehr aufgewühlt. Die Geschichte ging ihm verständlicherweise nah. „Wie später festgestellt wurde, war offenbar Geröll zwischen die Matrimoniumkristalle geraten“, schloss er seinen Bericht. „Das hatte die erste heftige Reaktion ausgelöst, die den Container verbeult hat. Als Lieutenant Commander Colligazio mit seinen Magnetstiefeln auf dem Container herumlief, hat das Magnetfeld seiner Stiefel offenbar die zweite Reaktion ausgelöst. Der Container wurde aufgesprengt und die Energie der Kristalle entlud sich in einer gewaltigen Plasmasäule. Colligazio und Fina befanden sich im Bereich der Plasmasäule. Von ihnen wurden nur noch DNS-Spuren gefunden. Es war, als hätten sie vom einen zum anderen Moment aufgehört zu existieren.“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Wurden die Bestimmungen bezüglich Matrimoniumkristallen nicht verschärft nach dem Vorfall?“, fragte Bogenschütz.

„Eigentlich waren sie schon sehr streng“, antwortete Holland. „Aber der Transport sollte schnell gehen, da hat man ein paar Vorschriften großzügig ausgedehnt. Aber was hat die Geschichte mit irgendwas zu tun, außer dass es eine schmerzhafte Erinnerung für mich ist?“

„Nun, einer Ihrer Kumpel von Terra hat gestern etwas übertragen“, stellte Piquet fest. „Angesichts der besonderen Situation der Erde und allem hat Mac Simum sich ein paar Gedanken gemacht. Es war sehr erhebend. Und das hat mich darauf gebracht, dass wir auch für unsere Rekrutierungsabteilung ein neues Manifest brauchen, vor allem jetzt, da Yefimov nicht mehr da ist. Zufällig erinnerte ich mich, Commander, dass Sie mir mal von Fina erzählt haben. Und der Zufall wollte es so, dass es passt.“

„Und was heißt das genau?“, hakte Jeff nach.

Die Admiralin räusperte sich. „Captain Bogenschütz“, sagte sie feierlich, „mir ist von der Führungseben von ASTROCOHORS wegen der besonderen Situation ein besonderes Privileg überantwortet worden. Normalerweise wird man nicht von gleichrangingen in den Rang eines Admirals erhoben, aber da es eine besondere Situation ist, machen wir eine Ausnahme. Aufgrund der Ausnahme befördere ich Sie hiermit zum Admiral und zum Oberverantwortlichen für den ASTROCOHORS CLUB! Commander Jeff Holland wird als Zeuge der Beförderung benannt.“

„Äh, ich, äh…“, stotterte Bogenschütz, „also… Danke! Danke, Admiralin!“

„Ihre Aufgabe wird es von jetzt an sein, die Rekrutierungsabteilung zu leiten.“ Sie wandte sich an Holland. „Und im Gedenken an Lieutenant Serafina Branca werden wir in einer Stunde das neue Manifest veröffentlichen. Es wird eine Neustrukturierung des CLUBs geben und eine neue Vision.“

„Das klingt gut“, sagte Jeff. „Das hätte ihr sicher gefallen.“ Er seufzte. Er wünschte sich, sie wäre hier. An seiner Seite. Wer weiß, was gewesen wäre.

Aber jetzt ging es nicht um „was vielleicht gewesen wäre“. Es gab eine Gegenwart, der man sich stellen musste.

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