Aller Dinge Anfang ist klein

Das Gebäude hatte eine gewagte Architektur, die jetzt, da es über dreißig Jahre alt war, immer noch ihresgleichen suchte. Die Front des Haupteingangs wurde von einer großen Glasfront eingenommen. Kam man durch den Haupteingang rein, stand man mitten in einem offenen Raum, der sich bis zur aus Glas bestehenden Decke erhob. Die einzelnen Stockwerke bildeten Galerien, von denen aus man nach unten blicken konnte. Es war ziemlich beeindruckend. Jemand hatte sich damals schon große Gedanken gemacht, als die BASIS ATLANTIS aufgebaut wurde, Stück für Stück.

Commander Madeleine Tornquist stand an der obersten Galerie, hatte sich aufs Geländer gelehnt und sah nach unten. Dafür war sie nun schon eine Woche verantwortlich. Für das alles. Sie war die neue Kommandantin der ATLANTIS. Sie schüttelte ihren Kopf, so dass die nackenlangen, dunkelblonden Haare hin- und herflogen. Die Zeremonie war ja ziemlich unspektakulär gewesen, auch wenn das so nicht geplant war. Admiral McCloud sollte den Wechsel verkünden. Commander Natascha Jung, ihre Vorgängerin, war zu dem Zeitpunkt schon auf dem Weg aus dem Sonnensystem heraus. Sie hatte sich an Bord von einem der Schiffe befunden, die versuchten, die Blockade zu überwinden, bevor… das Ding da… aufgebaut wurde. Seither hatte man nichts mehr von den Schiffen gehört. Tornquist hoffte, dass alles gutgegangen war. Die BOURGOGNE, das hatten die Anzeigen gezeigt, war beim Versuch, in den Raumtunnel einzudringen, plötzlich in den Normalraum zurückgeschleudert worden. Seither war der Kontakt abgebrochen. Was mit den anderen Schiffen war, wusste niemand. Der Kontakt nach außerhalb des Sonnensystems war abgebrochen.

Die Galerie im Hauptgebäude der BASIS ATLANTIS. Bild: Storyblocks

Was fast noch wichtiger war: Mit diesem Tag, dem Jubiläumstag der Organisation ASTROCOHORS, war die BASIS ATLANTIS aus den Klauen des Konzern Cúyel befreit. Es war ein kostspieliger Befreiungsschlag gewesen, aber dafür gehörte die Infrastruktur jetzt endgültig der Flotte.
“Aber Commander!”, hörte Madeleine eine männliche Stimme. “So tief in Gedanken?”
Die Kommandantin drehte sich um. Admiral McCloud hatte sich ihr unbemerkt genähert. Zumindest hatte sie ihn nicht bemerkt, aber sie war tatsächlich tief in Gedanken gewesen. McCloud hätte vermutlich Schuhe zum Stepptanzen tragen können und sich mit Glocken- und Schalmeienklängen nähern können, sie hätte ihn nicht wahrgenommen.

Commander Madeleine Tornquist. Bild: PHAN.PRO

“Ich muss meine Gedanken sortieren”, erklärte die Schwedin, “wollen Sie mir Gesellschaft leisten?”
“Ich bin ein alter Verwaltungsbeamter”, antwortete McCloud, “im Sortieren bin ich groß. Was kann ich tun?”
“Seit dem Jubiläumstag bekomme ich jeden Tag immer noch schlechtere Nachrichten auf den Schreibtisch”, meinte sie. “Ich weiß nicht, wie wir reagieren sollen.”
“Es ist natürlich eine… hm” Der Admiral brach den Satz ab. Er suchte nach einem Wort. Dann setzte er erneut an: “Es tut mir leid, tatsächlich finde ich kein Wort, das der Situation angemessen ist. Der Krieg, der zwischen Anarthia und Almostea ausgebrochen ist…”
“Ausgebrochen?”, fiel ihm Tornquist ins Wort. “Finden Sie das nicht ein bisschen verharmlosend? Nennen wir die Dinge doch beim Namen! Der Angriff durch die Streitkräfte von Anarthia war nicht provoziert worden. Und was tun unsere Politiker in der Solaren Versammlung? Reden schwingen!”
McCloud zuckte mit den Achseln. “Jeder tut das, was er am Besten kann”, meinte er. “Ich verstehe Ihre Frustration, aber leider ist auch Anarthia Mitglied in der Solaren Versammlung. Auf diesem Parkett wird es rutschig. Die Leute verachten die Politik und wollen damit nichts zu tun haben. Aber wenn wir nicht sehr vorsichtig sein, wird das den Feinden der Demokratie weiteren Vorschub leisten.”
“Das macht doch der Ippotis-Effekt auch schon!”, schnaubte Madeleine wütend. “Haben Sie die Geschichten mitbekommen?”
“Einige, ja”, bestätigte der Admiral. “Durch die Unterbrechung der Feierlichkeit fand die Verkündung, dass Sie den Posten der Kommandantin übernehmen nicht so viel Aufmerksamkeit. Sie wissen doch, wie die Presseorgane aus der Ippotis-Gruppe sind. Die blasen alles zu einer Verschwörungserzählung auf.”
“Ja, und schnüffeln mir nach, besonders dieser… Wie heißt der Tintenpisser noch gleich?”
“Paladin Snodbucket. Und ‘Tintenpisser’ haben Sie von mir!”
“Ja genau, welche Eltern, die bei klarem Verstand sind, geben ihrem Kind den Vornamen ‘Paladin’? Kein Wunder, dass der so komisch drauf ist. Dass sich auf der anderen Seite seiner erfundenen Geschichtchen aber lebende Personen befinden, das scheint dem Milchgesicht herzlich egal zu sein, oder?”
“Er hat kein Gewissen, das ist sicher. Ich kann Ihnen aber sicher sagen, dass er sich auf Sie eingeschossen hat, Commander, hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun. An Commander Jung hat er sich nie abgearbeitet. Sie sind leider in die Schusslinie geraten wegen dieser ungewöhnlichen Zeiten.”
Tornquist sah den Admiral wütend an. “Davon kann ich mir viel kaufen”, zischte sie. “Ich soll hier den Laden unter Kontrolle bringen, da kann ich es nicht brauchen, wenn so ein kleinkariertes Handtuch in meinem Privatleben herumschnüffelt, um die Farbe meines Schlüpfers herauszubekommen.”
“Soll ich Ihnen was sagen?”, meinte McCloud. “Dieser Satz ist erschreckend, denn obwohl er übertrieben ist, ist er doch auch gleichzeitig sehr realistisch. Snodbucket ist noch nicht so weit vorgedrungen, aber zuzutrauen ist es ihm.”
“Sagen Sie’s frei heraus: Es ist eine Frage der Zeit, bis er auf dem Niveau angekommen ist… nein, auf dem Niveau ist er schon längst angekommen, aber es ist eine Frage der Zeit, bis er das an mir auslässt.”
Admiral McCloud nickte stumm. Dann sagte er langsam: “Hm, Commander, sind Sie geistig in der Lage, noch etwas auszuhalten?”
“Was? Noch mehr schlechte Nachrichten?”
“Wie man’s nimmt. Auf eine Weise schon.”
“Und zwar?”
“Wissen Sie, wie oft wir uns umstrukturiert haben in letzter Zeit? Jetzt, da die Blockade so nachhaltig ist, müssen wir das schon wieder tun. Und wir werden uns wohl zusammenziehen müssen.”
“Zusammenziehen? Was soll das denn heißen?”
“Wir müssen alle Einrichtungen hier auf Terra aufgeben und zur ATLANTIS verlegen.”
“WAS?”
McCloud legte den Finger auf die Lippen. “Psssst!”, machte er. “Das ist noch nicht ganz offiziell raus, aber ich sehe nicht, was das noch aufhalten sollte. Wir werden die ATLANTIS und ihre Zweigstelle ausbauen, dafür aber alle anderen Außenstellen abbauen. Auch der ASTROCOHORS CLUB wird zurück hierher kommen.”
“Dann haben die Bleistiftschwinger gewonnen”, echauffierte sich Madeleine. “Das ist es doch, was sie seit dreißig Jahren wollen! Alle Außenstellen sollen dicht gemacht werden! Am besten wäre es sowieso, wenn ASTROCOHORS privatisiert wird und große Rendite abwirft. Naja, dann können wir zumindest Söldner nach Almostea schicken.”
“Commander!”, tadelte der Admiral.
“Was denn?”, kam es zurück. “Die Solare Versammlung bindet uns die Hände. Machen wir den großen Ausverkauf! Moral auf dem Grabbeltisch, das ist es doch, was die Konzernbosse wollen.”
“Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, wie sehr ich Sie verstehen kann. Aber wir müssen weitermachen. Also, halten Sie diese Neuigkeiten bitte noch zurück. Die Admiralität wird es zu gegebener Zeit kommunizieren.”
“Wann können wir damit rechnen?”
“Ich denke, zum Jahresende.”
“Na, das wird ja ‘n Silvester werden. Tolle Stimmung.”
“Ja. Und für noch mehr Schlagzeilen sorgen.”

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