…weil sie stets mit Geräusch verbunden

Es war wieder schlimmer geworden. Seit der Beschluss gefasst worden war, die ATLANTIS zu übernehmen, hatten die Arbeiten an der Basis… wie hieß sie eigentlich? Mühlenhof? Jedenfalls hatten auch hier die Arbeiten zugenommen. Fieberhaft wurde an etwas gebaut. Einem neuen Gebäudeteil. Nein, eigentlich ein eigenes Gebäude. Alles das bestätigte Max Tronics Vermutung, dass ASTROCOHORS SOLAR alle Abteilungen zusammenziehen wollte. Aber warum musste der Krach unbedingt sein? Gab es nicht geräuschlose Bauarbeiten?

Bild: Storyblocks

Mal wieder ging die Tür zum Büro auf und Zach Urity kam herein.
“Oh schön”, sagte Max. “Wieder Bilder?”
“Nein, einfach nur zur Ablenkung: Musik!”
Er zog seine Computereinheit heraus, tippte auf den Bildschirm und sofort war der Raum mit Liedern erfüllt:

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Und das war schon alles.

Gleich und gleich gesellt sich gern

Max Tronic blickte schon nicht mal mehr auf. Nicht nur hatte er Zach Urity an seinem Schritt erkannt, als selbiger das Büro betrat, er hatte an der Art des Schrittes sogar erkannt, was er wollte. Er war also mal wieder im Archiv gewesen und hatte rumgekramt. Vermutlich hielt er ein Bild in den Händen. Mal wieder. Gleich würde er triumphierend erklären, dass er etwas gefunden hätte. Etwas tolles. Oder so. Was würde es wohl sein? Wollte Max das wirklich wissen? Hörte er dem Freund nur zu, weil sie Freunde waren? Hätte er nicht etwas besseres zu tun?

“Ha!”, machte Zach.
“Lass mich raten”, sagte Max und würdigte Zach weiterhin keines Blickes, “Du hast wieder etwas im Archiv gefunden.”
“Ja, und was ich gefunden habe, wird Dich überraschen!”
“Och nö, so platt?”

Max schüttelte den Kopf. Zach klang wie eine von diesen Schlagzeilen im Internet, die die Leute dazu bringen sollte, darauf zu klicken. Es war fast schon ein Klischee: “Dies und das wird Dich überraschen!” Es war nicht sonderlich einfallsreich.

“Wenn’s aber doch so ist! Schau es Dir mal an.”
Nun drehte sich Max um und sah – natürlich ein Bild.

Bild: Thorsten Reimnitz

Das Bild war diesmal nicht verwackelt und nicht aus der Ferne aufgenommen. Es zeigte sehr deutlich und prominent einen Jungen, der ungefähr zehn Jahre alt sein durfte. Die Farbpalette ließ darauf schließen, dass das Bild vor ähnlich langer Zeit aufgenommen wurde, wie die anderen. Der Junge trug den Einsatzparka, der schon auf dem ersten Bild zu sehen war. Mit der rechten Hand griff er an die linke Brusttasche des Parkas, wo man irgendetwas rotes sehen konnte. Der Gesichtsausdruck des Jungen war ziemlich ernst. Max konzentrierte sich auf das Gesicht. Konnte es sein…

“Kommt Dir das Gesicht bekannt vor?”, wollte Zach in dem Moment wissen.
“Ganz entfernt ja. Aber wenn das, was ich vermute stimmt, würde es vom Alter passen.”
“Du denkst also das Gleiche wie ich?”
“Das kommt darauf an, was Du denkst.”
“Komm, das ist doch eindeutig einer von unseren Fünflingen! Als Junge, okay, aber es ist entweder Jack, Melville, Mac oder Dan!”
“Ich würde Dich gern zustimmen und habe das gleiche Gefühl, aber das passt nicht von der Logik her”, bedauerte Max.
“Was? Was meinst Du damit?”
“Wenn das der Junge von den anderen Bildern ist – davon müssen wir ausgehen – kann es keiner von den fünfen sein. Er trägt einen Einsatzparka der Raumflotte und… zumindest auf den letzten Bildern befand er sich auf der BASIS ATLANTIS. Unsere… ‘Fünflinge’, wie Du sie nennst, sind aber späte Rekruten. Sie sind erst… was… fünf, sechs, sieben oder so Jahre später zu uns gekommen.”
“Verdammt! Du hast recht!”
“Hab ich immer.”

Zach ließ sich enttäuscht auf einen Hocker fallen. “Ich hatte gedacht, ich wäre endlich ein Stück weitergekommen. Aber das würde erklären, warum sich die Kartons mit diesen Bildern im Archiv befinden. Es sind einfach die Bilder, die von Angehörigen der Raumflotte gemacht wurden.”
“Warte mal, ich habe eine Idee”, sagte Max da. Er nahm Zach das Bild ab und hielt es sich vors Gesicht. Man konnte sehen, dass sich die LEDs seines Visors änderten.
“Was machts Du?”, wollte Zach wissen.
“Ich scanne das Bild ein”, antwortete Max, “mit Hilfe meines Visors. Dann lasse ich ein Alterungsprogramm drüber laufen. Mal sehen, was rauskommt.”
Er nahm einen Tablettcomputer von seinem Schreibtisch. Dann tippte er an seinen Visor. Das Tablett gab ein kurzes, piependes Geräusch von sich. Das Bild war angekommen.
“Das gibt’s doch nicht!”, entfuhr es Max.
“Was?”

Max zeigte Zach, was da auf dem Bildschirm zu sehen war: Ein alterssimuliertes Bild des Jungen, hochgesetzt auf irgendwas zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Es sah eigenartig aus, ein wenig fremd, nichtsdestotrotz war es eindeutig: Zach hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen. Wenn die Simulation stimmte, zeigte das Photo einen der Freunde der beiden, als er ungefähr zehn Jahre alt war.

“Das ist UN-MÖG-LICH!”, wiederholte Max seine Einschätzung.
“Was ist aber, wenn doch?”, wollte Zach wissen.
“Die Logik gebietet zwei Möglichkeiten. Nummer eins: Einer von unseren Freunden hat nicht die Wahrheit gesagt, seine Familie lebte vorher schon hier.”
“Und Nummer zwei?”
“Nummer zwei… es gibt noch einen.”
Zach sprang auf. “Weißt Du, was Du da sagst?”, brauste er auf. “Es ist doch sowieso alles so seltsam. Jedes Mal, wenn man die fünf drauf anspricht, wehren sie ab. Sie seien keine Geschwister, schon keine Fünflinge. Aber sie sehen sich doch so ähnlich wie ein Ei dem anderen. Ich meine, wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert?”
“Nun, Doppelgänger gibt es, das ist klar”, erklärte Max. “Angeblich hat jeder von uns sieben Ebenbilder, die irgendwo auf diesem Planeten herumlaufen. Tatsächlich ist die Kombinationsmöglichkeit unserer Gene zwar sehr groß, aber nicht unendlich. Und je nachdem, wo man nachliest, heißt es, die Wahrscheinlichkeit, einem Doppelgänger zu begegnen sei eins zu einer Milliarde oder noch geringer. Aber fünf oder sechs davon?”
“Professor Hoaxley hat sie zu ASTROCOHORS gebracht”, grübelte Zach. “Der hat doch bestimmt auch was gemerkt.”
“Dem stimme ich zu. Ich rufe mal die Profile unserer Freunde ab.”

Max bewegte den Kopf. Das tat er immer, wenn er mit dem Display seines Visors arbeitete. Wahrscheinlich machte er irgendwelche Eingaben.
“Holla!”, sagte er auf einmal. “Holla die Waldfee!”
“Was?”
“Das ist mir noch nie aufgefallen… aber andererseits… ich habe noch nie alle ihre Profile aufrufen wollen…”
“Was? Mach’s nicht so spannend!”
“Ich kann die Profile nicht gesammelt aufrufen. Sie sind gesperrt. Es geht nur einzeln. Und natürlich sind die Hinweise auf Geburtsort und Eltern nicht abrufbar.”
“Was erstmal nichts heißt. Das könnte auch bedeuten, sie wollen nicht, dass da jeder rumnasen kann. Ich habe in meinem Profil der Raumflotte auch nicht jede einzelne Angabe freigeschaltet, damit Schütze Armleuchter sie abrufen kann.”
“Aber in dem Zusammenhang”, warf Max ein, “ist das schon seltsam. Wir fassen zusammen: Wir haben fünf Freunde…”
“Wir sind die fünf Freunde”, trällerte Zach und unterbrach Max, “Jeff und Mac, Jack und Dan und Melville, wir sind die besten Freunde, ja!”

Der Visor, den Max trug, machte es unmöglich, seine Augenpartie zu sehen. Aber die Mimik von Nase und Mund sprach Bände. “Was soll das denn sein?”, fragte er entsetzt.
“Was?”, meinte Zach. “Sag bloß, Du kennst die ‘Fünf Freunde’ nicht? Von Enid Blyton? Die Romanreihe? Hörspielreihe? Fernsehserie? Kinofilm? Britisch und bis über beide Ohren Klischeebeladen?”
“Ich habe davon gehört”, gab Max zu, “aber das Lied war mir nicht vertraut. Darf ich weitermachen?”
“Oh, bitte.”

“Also, unsere fünf Freunde sehen sich ähnlich bis aufs Haar, könnten Fünflinge sein, reagieren aber etwas gereizt, wenn man sie darauf anspricht. Und jetzt gibt es dieses Bild, das andeutet, es könnte einen sechsten geben. Tja, Du wolltest doch ein Rätsel lösen, nicht wahr? Ich glaube, es ist soeben noch etwas größer geworden.”
“Warte mal, mir fällt etwas ein!” Zach drehte das Bild um und hielt es hoch. Er versuchte, etwas zu erkennen. “Da ist ein Schriftzug”, sagte er. “Jemand hat etwas mit einem Stift auf die Rückseite des Bildes geschrieben, aber ich kann es nicht komplett entziffern. Das ist ein ‘D’, dann ein ‘O’… der Rest ist zu verblasst.”
“Nicht für mich und meinen Visor!”, behauptete Max und nahm das Bild. Er hielt die Rückseite vor seinen Visor. “Mit der Scannereinheit meines Visors kann ich die Unebenheiten im Papier sichtbar machen”, erklärte er dann. “Immer, wenn man auf Papier schreibt, hinterlässt man nämlich nicht nur Tinte, sondern der Stift hinterlässt auch einen Abdruck. Und da ist es auch schon.” Laut fügte er hinzu: “D-O-R-A-K! DORAK!”
“Hm, nie gehört.”
“Warte, ich habe hier einen Jarmo Dorak, der gehört zum ASTROCOHORS CLUB und… ich werd’ nicht mehr!”
Max tippte an seinen Visor. Das Bild wurde auf den Tablettcomputer übertragen. Und für ungefähr eine Minute war Zach sprachlos.

Bild: Thorsten Reimnitz

Es war ein Artikel einer internen Onlinepublikation der Flotte. Es wurde davon berichtet, dass Jarmo Dorak auf der Suche nach dem Tempel der Windharfe schon weitergekommen sei und man bald mit seinem Erfolg rechne. Das Bild neben dem Artikel zeigte einen Mann, der wiederum den fünf Freunden von Max und Zach aufs Haar glich. Er trug eine schwere Einsatzjacke, wie sie vor ein paar Jahren bei ASTROCOHORS Verwendung fand, blau mit schwarzen Schulterteilen und schwarzen Ärmeln.

“Schön, dass wir das rausgefunden haben”, sagte Max mit Sarkasmus in der Stimme. “Aber was tun wir jetzt?”
“Du weißt doch, wie die Fünf reagieren, wenn man sie darauf anspricht.”
“Ja. Und das lässt mich vermuten, dass da mehr dahinter steckt.”
“Du bist doch immer so logisch unterwegs”, stellte Zach fest. “Welche Hypothesen gibt es, was dahinter stecken könnte?”
“Hauptsächlich zwei”, führte Max aus. “Nummer eins: Sie wissen natürlich, dass sie sich gleichen wie ein Ei dem anderen, deswegen haben sie sich auch zusammengefunden und müssen irgendwas geheim halten. Nummer zwei: Sie wissen es nicht, erkennen sich auch nicht und es steckt irgendwas anderes dahinter. Ein sehr dunkles Geheimnis.”
“Wieso muss es dann zwangsläufig ein dunkles Geheimnis sein?”
“Überleg doch mal: Warum sollte jemand wollen, dass sie sich gegenseitig nicht erkennen? Doch nur jemand, der etwas zu verbergen hat. Aber egal wie, in beiden Fällen stellt sich die Frage, welches Geheimnis steckt hinter ihrer… Entstehung, wenn man so will.”
“Was tun wir jetzt?”
“Auf jeden Fall nichts unüberlegtes!”, meinte Max. “Ich habe gehört, in der ATLANTIS gibt es einen neuen Arzt, vielleicht kann ich den mal auf sie ansetzen. Bis dahin sollten wir unsere Erkenntnisse für uns behalten.”

Historische Dokumente

Es war eine ähnliche Situation wie ungefähr zwei Wochen zuvor: Zach Urity betrat das Büro des Hauptquartiers des Quadrivium Clubs, in dem Max Tronic an seinem Computer arbeitete. Wieder hatte Zach etwas bei sich, wieder eine Fotografie. Max blickte kurz auf. Auch er stellte gedanklich die Verbindung zu den vergangenen Ereignissen her und nickte.

“Hast Du wieder etwas im Archiv gefunden?”, fragte der Computertechniker.
“Ja”, antwortete Zach. “Ich finde das ja sehr faszinierend.”
“Ich finde die Art und Weise, wie sich alles gewandelt hat, sehr faszinierend”, entgegnete Max. “Und solche Bilder helfen einem, die Entwicklung zu sehen. Wie die ATLANTIS ausgesehen vor Jahren und Jahrzehnten zum Beispiel.”
“Genau. Es ist schon erstaunlich, es war damals eine Gruppe von Freunden, es wurde ein kleines Projekt gegründet – und jetzt ist das Projekt fester Bestandteil von ASTROCOHORS SOLAR.”
“Etwas passiert”, wechselte Tronic unvermittelt das Thema.
“Was?”, fragte Zach.
“Ich habe es mitbekommen”, erzählte Max weiter. “Sie haben schweres Gerät verlegt. Sieht so aus, als wollen sie einen Tunnel ausheben. Eine Art Schnellverbindung.”
“Eine Schnellverbindung zwischen was?”
“Das Gelände der BASIS ATLANTIS wurde doch jetzt endgültig von Cúyel übernommen. Ich glaube, sie bauen einen Tunnel vom Bodensee bis hierher, als schnelle Verbindung.”
“Was? Aber wieso?”
“Meinen Dafürhalten nach werden die Abteilungen rund um die Welt geschlossen und alles zum Hauptquartier verlegt – nach hierher und zur ATLANTIS.”
Zach schüttelte den Kopf. “Es wurde aber nichts gesagt.”
“Das müssen sie auch nicht”, gab Max zurück. “Ich kriege das auch so mit. Früher oder später werden sie es zugeben müssen. Und immerhin, das Sonnensystem ist ja jetzt endgültig vom Rest der Galaxis abgeschnitten. Aber das werden wir früh genug mitbekommen. Zeig doch mal, was hast Du im Archiv gefunden?”
“Wie?” Zach war im Gedanken gewesen. “Oh, ach so, das hier.”

Bild: Thorsten Reimnitz

Wieder ein altes Bild. Wieder die merkwürdige Farbpalette. Außerdem war ein Automobil zu sehen, das das Bild eindeutig in die 1980er Jahre der Erde setzte. Neben dem Auto saßen ein paar Menschen auf einer Mauer, ein Erwachsener und drei Kinder. Neben den Kindern stand ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Er war der einzige, der in Richtung der Kamera blickte, alle anderen waren mit sich selbst beschäftigt. Das Bild war ganz eindeutig von einem erhöhten Punkt aufgenommen worden, denn man sah von oben auf die Gruppe, die auf der anderen Seite einer Straße stand. Vielleicht war der Fotograf auf einem Balkon gestanden und hatte auf die gegenüber liegende Straßenseite fotografiert.

Anhang der Helligkeit, der grünen Pflanzen in der Umgebung und dem Umstand, dass alle abgebildeten Personen kurze Hosen trugen, ließ sich erkennen, dass Sommer sein musste.
“Ich glaube”, sagte Zach, “das ist der gleiche Junge wie auf dem anderen Bild.”
“Das ist aber sehr schwer zu sagen. Das andere Bild war verwackelt und das hier ist aus der Entfernung aufgenommen. Kann schon sein. Kann aber auch nicht sein. Aber ich weiß, wo das ist.”
“Oh ja? Wo denn?”, fragte Urity aufgeregt.
“Das ist auf dem großen Hauptgelände der ATLANTIS”, erklärte Max. “Da, wo sich die Wohneinheiten befinden. Das würde passen, die Straße sieht breit aus und da, an dem Baum neben dem Jungen geht eine schmale Straße ab. So sind die Wohnblöcke dort angeordnet, in Reihen, die breiten Straßen gehen quer durch, die schmalen trennen die Häuserreihen von einander.”
“Das würde ja schon mal zu dem anderen Bild passen. Aber ich habe noch etwas gefunden, schau mal.”

Er drehte das Bild um. Wieder war da eine Jahreszahl aufgedruckt, allerdings konnte man die letzte Ziffer nicht mehr lesen, es war nur: “198x” Das war es aber gar nicht, was Zach zeigen wollte. In einem Eck der Rückseite war ein Kreis abgedruckt, makellose Form, der durch Linien in sechs gleiche Teile geteilt wurde. Der Kreis war etwas verblasst, es sah aus, als sei er mit einem Stempel gemacht worden. Fast so, als sei er ein Logo oder ein Siegel. Aber dieses Logo war ziemlich nichtssagend. Man konnte nicht sehen, wofür der Kreis stehen sollte. Kein Schriftzug, keine Zahlen, keine Buchstaben. Nur der Kreis und die Linien, die ihn durchquerten. Aber jemand hatte ihn mit Absicht dort angebracht.

“Auf dem letzten Bild war der nicht drauf”, meinte Zach. “Merkwürdige Sache.”
“Ja”, bestätigte Max. “Aber auch nicht hilfreich. Bevor Du noch mehr Zeit verschwendest, solltest Du Dich lieber wieder den Arbeiten im Archiv zuwenden. Wir wollen ja irgendwann auch mal fertig werden. Vergiss nicht, unsere Freunde dürften bald wieder kommen.”
“Jawohl. Und vielleicht finde ich ja noch mehr.”

Aller Dinge Anfang ist klein

Das Gebäude hatte eine gewagte Architektur, die jetzt, da es über dreißig Jahre alt war, immer noch ihresgleichen suchte. Die Front des Haupteingangs wurde von einer großen Glasfront eingenommen. Kam man durch den Haupteingang rein, stand man mitten in einem offenen Raum, der sich bis zur aus Glas bestehenden Decke erhob. Die einzelnen Stockwerke bildeten Galerien, von denen aus man nach unten blicken konnte. Es war ziemlich beeindruckend. Jemand hatte sich damals schon große Gedanken gemacht, als die BASIS ATLANTIS aufgebaut wurde, Stück für Stück.

Commander Madeleine Tornquist stand an der obersten Galerie, hatte sich aufs Geländer gelehnt und sah nach unten. Dafür war sie nun schon eine Woche verantwortlich. Für das alles. Sie war die neue Kommandantin der ATLANTIS. Sie schüttelte ihren Kopf, so dass die nackenlangen, dunkelblonden Haare hin- und herflogen. Die Zeremonie war ja ziemlich unspektakulär gewesen, auch wenn das so nicht geplant war. Admiral McCloud sollte den Wechsel verkünden. Commander Natascha Jung, ihre Vorgängerin, war zu dem Zeitpunkt schon auf dem Weg aus dem Sonnensystem heraus. Sie hatte sich an Bord von einem der Schiffe befunden, die versuchten, die Blockade zu überwinden, bevor… das Ding da… aufgebaut wurde. Seither hatte man nichts mehr von den Schiffen gehört. Tornquist hoffte, dass alles gutgegangen war. Die BOURGOGNE, das hatten die Anzeigen gezeigt, war beim Versuch, in den Raumtunnel einzudringen, plötzlich in den Normalraum zurückgeschleudert worden. Seither war der Kontakt abgebrochen. Was mit den anderen Schiffen war, wusste niemand. Der Kontakt nach außerhalb des Sonnensystems war abgebrochen.

Die Galerie im Hauptgebäude der BASIS ATLANTIS. Bild: Storyblocks

Was fast noch wichtiger war: Mit diesem Tag, dem Jubiläumstag der Organisation ASTROCOHORS, war die BASIS ATLANTIS aus den Klauen des Konzern Cúyel befreit. Es war ein kostspieliger Befreiungsschlag gewesen, aber dafür gehörte die Infrastruktur jetzt endgültig der Flotte.
“Aber Commander!”, hörte Madeleine eine männliche Stimme. “So tief in Gedanken?”
Die Kommandantin drehte sich um. Admiral McCloud hatte sich ihr unbemerkt genähert. Zumindest hatte sie ihn nicht bemerkt, aber sie war tatsächlich tief in Gedanken gewesen. McCloud hätte vermutlich Schuhe zum Stepptanzen tragen können und sich mit Glocken- und Schalmeienklängen nähern können, sie hätte ihn nicht wahrgenommen.

Commander Madeleine Tornquist. Bild: PHAN.PRO

“Ich muss meine Gedanken sortieren”, erklärte die Schwedin, “wollen Sie mir Gesellschaft leisten?”
“Ich bin ein alter Verwaltungsbeamter”, antwortete McCloud, “im Sortieren bin ich groß. Was kann ich tun?”
“Seit dem Jubiläumstag bekomme ich jeden Tag immer noch schlechtere Nachrichten auf den Schreibtisch”, meinte sie. “Ich weiß nicht, wie wir reagieren sollen.”
“Es ist natürlich eine… hm” Der Admiral brach den Satz ab. Er suchte nach einem Wort. Dann setzte er erneut an: “Es tut mir leid, tatsächlich finde ich kein Wort, das der Situation angemessen ist. Der Krieg, der zwischen Anarthia und Almostea ausgebrochen ist…”
“Ausgebrochen?”, fiel ihm Tornquist ins Wort. “Finden Sie das nicht ein bisschen verharmlosend? Nennen wir die Dinge doch beim Namen! Der Angriff durch die Streitkräfte von Anarthia war nicht provoziert worden. Und was tun unsere Politiker in der Solaren Versammlung? Reden schwingen!”
McCloud zuckte mit den Achseln. “Jeder tut das, was er am Besten kann”, meinte er. “Ich verstehe Ihre Frustration, aber leider ist auch Anarthia Mitglied in der Solaren Versammlung. Auf diesem Parkett wird es rutschig. Die Leute verachten die Politik und wollen damit nichts zu tun haben. Aber wenn wir nicht sehr vorsichtig sein, wird das den Feinden der Demokratie weiteren Vorschub leisten.”
“Das macht doch der Ippotis-Effekt auch schon!”, schnaubte Madeleine wütend. “Haben Sie die Geschichten mitbekommen?”
“Einige, ja”, bestätigte der Admiral. “Durch die Unterbrechung der Feierlichkeit fand die Verkündung, dass Sie den Posten der Kommandantin übernehmen nicht so viel Aufmerksamkeit. Sie wissen doch, wie die Presseorgane aus der Ippotis-Gruppe sind. Die blasen alles zu einer Verschwörungserzählung auf.”
“Ja, und schnüffeln mir nach, besonders dieser… Wie heißt der Tintenpisser noch gleich?”
“Paladin Snodbucket. Und ‘Tintenpisser’ haben Sie von mir!”
“Ja genau, welche Eltern, die bei klarem Verstand sind, geben ihrem Kind den Vornamen ‘Paladin’? Kein Wunder, dass der so komisch drauf ist. Dass sich auf der anderen Seite seiner erfundenen Geschichtchen aber lebende Personen befinden, das scheint dem Milchgesicht herzlich egal zu sein, oder?”
“Er hat kein Gewissen, das ist sicher. Ich kann Ihnen aber sicher sagen, dass er sich auf Sie eingeschossen hat, Commander, hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun. An Commander Jung hat er sich nie abgearbeitet. Sie sind leider in die Schusslinie geraten wegen dieser ungewöhnlichen Zeiten.”
Tornquist sah den Admiral wütend an. “Davon kann ich mir viel kaufen”, zischte sie. “Ich soll hier den Laden unter Kontrolle bringen, da kann ich es nicht brauchen, wenn so ein kleinkariertes Handtuch in meinem Privatleben herumschnüffelt, um die Farbe meines Schlüpfers herauszubekommen.”
“Soll ich Ihnen was sagen?”, meinte McCloud. “Dieser Satz ist erschreckend, denn obwohl er übertrieben ist, ist er doch auch gleichzeitig sehr realistisch. Snodbucket ist noch nicht so weit vorgedrungen, aber zuzutrauen ist es ihm.”
“Sagen Sie’s frei heraus: Es ist eine Frage der Zeit, bis er auf dem Niveau angekommen ist… nein, auf dem Niveau ist er schon längst angekommen, aber es ist eine Frage der Zeit, bis er das an mir auslässt.”
Admiral McCloud nickte stumm. Dann sagte er langsam: “Hm, Commander, sind Sie geistig in der Lage, noch etwas auszuhalten?”
“Was? Noch mehr schlechte Nachrichten?”
“Wie man’s nimmt. Auf eine Weise schon.”
“Und zwar?”
“Wissen Sie, wie oft wir uns umstrukturiert haben in letzter Zeit? Jetzt, da die Blockade so nachhaltig ist, müssen wir das schon wieder tun. Und wir werden uns wohl zusammenziehen müssen.”
“Zusammenziehen? Was soll das denn heißen?”
“Wir müssen alle Einrichtungen hier auf Terra aufgeben und zur ATLANTIS verlegen.”
“WAS?”
McCloud legte den Finger auf die Lippen. “Psssst!”, machte er. “Das ist noch nicht ganz offiziell raus, aber ich sehe nicht, was das noch aufhalten sollte. Wir werden die ATLANTIS und ihre Zweigstelle ausbauen, dafür aber alle anderen Außenstellen abbauen. Auch der ASTROCOHORS CLUB wird zurück hierher kommen.”
“Dann haben die Bleistiftschwinger gewonnen”, echauffierte sich Madeleine. “Das ist es doch, was sie seit dreißig Jahren wollen! Alle Außenstellen sollen dicht gemacht werden! Am besten wäre es sowieso, wenn ASTROCOHORS privatisiert wird und große Rendite abwirft. Naja, dann können wir zumindest Söldner nach Almostea schicken.”
“Commander!”, tadelte der Admiral.
“Was denn?”, kam es zurück. “Die Solare Versammlung bindet uns die Hände. Machen wir den großen Ausverkauf! Moral auf dem Grabbeltisch, das ist es doch, was die Konzernbosse wollen.”
“Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, wie sehr ich Sie verstehen kann. Aber wir müssen weitermachen. Also, halten Sie diese Neuigkeiten bitte noch zurück. Die Admiralität wird es zu gegebener Zeit kommunizieren.”
“Wann können wir damit rechnen?”
“Ich denke, zum Jahresende.”
“Na, das wird ja ‘n Silvester werden. Tolle Stimmung.”
“Ja. Und für noch mehr Schlagzeilen sorgen.”

ASTROCOHORS SOLAR: PRAELUDIUM | ACSOLAR #305

Am Jubiläumstag der Raumflotte ASTROCOHORS hat die neu gegründete Abteilung ASTROCOHORS SOLAR etwas Neues geplant, dass die Stimmung innerhalb des Sonnensystems wieder heben und die Völker der Planeten wieder zusammenbringen soll. Leider hat davon auch jemand andere erfahren…

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Angriff der sinisteren Hacker von einem Planeten aus der Nähe des Mars

Viele Menschen haben schon viel über Kommunikation geschrieben und viele Erkenntnisse zusammengetragen. Wir wissen, welche Arten von Kommunikation es gibt, dass man nicht nicht kommunizieren kann und dass die Botschaft stets der Empfänger macht. Es gibt Allegorien über schwarze Kisten, in die man nicht hineinblicken kann, genauso wenig wie man in ein menschliches Gehirn hineinblicken kann. Zumindest noch nicht, aber wahrscheinlich war da schon jemand dran, das zu erforschen. So wie die vier Seiten einer Nachricht erforscht wurden und dass ein einzelner Satz sehr unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Auch dass Kommunikation immer eine Abfolge von Aktion und Reaktion war, war schon lang und breit erforscht worden.

Bei all diesen Forschungsarbeiten stand immer eins im Hintergrund: Es bedurfte nicht notwendigerweise ein ganzes Gespräch, um eine Situation völlig zu verändern. Es reichte auch ein Satz. Und ein solcher Satz konnte zum Beispiel sein: “Na, wie kommst Du denn voran?”

In unserem speziellen Fall wurde dieser Satz ziemlich unbedarft vorgetragen von Zach Urity, dem Techniker des Quadrivium Club. Er hatte ihn gesagt, als er genauso unbedarft das Büro im Hauptquartier des Quadrivium Club betreten hatte, wo der Computerverantwortliche vor mehreren Bildschirmen saß und versuchte, sich durch Daten zu wühlen. Es sollte eine kleine Konversation werden, eine Auflockerung, eine Abwechslung vom momentanen Alltag. Smalltalk. Mehr nicht. Es wurde mehr.

Die Antwort von Max Tronic, dem Computerverantwortlichen, bestand aus einer Abfolge blumiger Begriffe, die dafür gedacht waren, andere Menschen zu beleidigen. Zum Schutz eventuell anwesender Kinder geben wir das von Max gesagte an dieser Stelle wieder und blenden die Schimpfwörter aus: “Diese **** mit ihren ****** *****!! *****! *****! Da soll doch der ***** mit seinem ***** ***** *****, und wenn dann der Henkel abbricht, dann brauchen die aber ‘nen verdammt guten Arzt, der das ****** Ding wieder rausholt!”
“Oh”, machte Zach, “ich spüre negative Vibes. Ich nehme das mal als ein ‘nein, lieber Max, es geht gar nicht gut voran’.”
“Darauf kannst Du Gift nehmen und ****** *****!”, antwortete Max.
“Öhm”, begann Zach, “also, in einem anderen Zusammenhang ist das sicherlich sehr… anregend. Aber hier ist das doch etwas… wie soll ich sagen… unangenehm. Vor allem, da man danach einige Zeit wahrscheinlich nicht mehr sitzen kann. Was ist denn das Problem?”
“Menschen!”, blaffte Max. “Ich hasse sie. Mit ein bisschen Glück schlägt der Klimawandel voll rein oder der Möchtegern-Großzar drückt auf den roten Knopf – und dann haben sich alle Probleme auf einen Schlag erledigt!”
Urity musste schlucken. Er hatte die letzte Zeit mitbekommen, dass der Freund ziemlich aufgeregt war, das schon, aber jetzt schien es so, als sei sein Nervenkostüm in Fetzen gerissen. “Was haben Menschen denn getan?”, fragte er vorsichtig.
“Im Allgemeinen sehr viel”, kam es zurück, “Minderheiten unterdrückt, Kriege angezettelt, fremde Länder ausgebeutet und so. Aber in diesem speziellen Fall sind es irgendwelche Hacker, die versuchen, in unsere Webseiten einzudringen. Und das werden immer mehr. Schau mal her!”

Bild: Alex Ledel

Er deutete auf den Bildschirm vor sich. Man konnte den Posteingang eines eMail-Postfachs sehen. 90 neue Nachrichten, doch allesamt waren Rückmeldungen von einem Schutzprogramm, dass jemand versucht hatte, sich bei einer der Webseiten anzumelden, der eigentlich keinen Zugriff darauf hatte.
“Siehst Du den Zeitraum?”, fragte Max. “Allein dieser Ausschnitt hier ist das, was in den letzten paar Stunden zusammengekommen ist. Und es wird immer mehr.”
“Was… was sind das für Leute? Und was wollen die von unseren Webseiten?”
“Sie versuchen, sich in einen Admin-Account einzuhacken. Zum Glück sind die speziell geschützt, aber es nervt. Und eine Gefahr besteht trotzdem.”
“Was fangen die denn an mit einem Admin-Account von unseren Seiten? Ich meine, sooo wichtig ist der Quadrivium Club nun auch wieder nicht.”
“Das ist egal. Webseite ist Webseite. Sie können sie infizieren, so dass Besucher unserer Webseite sich einen Virus einfangen oder sonst irgendwas von der Webseite machen lassen für ihre illegalen Geschäfte. Und sei es nur, dass sie massiv Werbung für irgendwelche obskuren Sachen posten. Unsere Webseiten sind denen dabei egal, die ganzen Beiträge und die Infrastruktur, die wir jahrelang aufgebaut haben, könnte dabei zerstört werden. Erinnerst Du Dich noch an das Summertime Parcs Forum?”
“Oha, ja”, entgegnete Zach, “das ist aber schon länger her.”
“Ja, aber das war so ein Fall”, erklärte Max. “Sie haben sich über die Forensoftware Zugang verschafft und wie Du ja mitgekriegt hast, war das ganze Forum unrettbar infiziert. Dabei waren wir auf einem guten Weg, das Forum war ein Ort des Treffens und des Austauschs geworden. Und durch die Aktivität eines Hackers wurde das alles gefährdet. Eben noch ging es um Erfahrungsaustausch über Urlaube im Ferienpark, Schwupps! Geht es in der nächsten Minute um Potenzmittel, die man sich irgendwo bestellen kann.”

Er tippte auf seiner Tastatur herum. “Und schau mal da!”, meinte er, als sich der Ausschnitt änderte. Ein anderer eMail-Account. Aber auch dieser war von oben bis unten voll von Rückmeldungen über Hackerangriffe. In diesem Fall waren es 80 Mails.

Bild: Alex Ledel

“Allein der Datenverkehr!”, beklagte sich Max. “Zum Glück kommen diese Mails in ein separates Konto, sonst würden sie unseren normalen eMail-Verkehr auch noch blockieren.”
“Also wird ASTROCOHORS Solar auch schon angegriffen?”, hakte Zach nach. “Meinst Du, das hängt mit der Feierlichkeit nächste Woche zusammen?”
“Puh, das weiß ich wirklich nicht”, musste Max zugeben. “Ja, die Jubiläumsfeierlichkeit soll etwas besonderes beinhalten, aber ich denke, außerhalb unserer Organisation wird das kaum Wellen schlagen. Das ist hier nur der ganz normale Wahnsinn. Aber das gibt uns einen Eindruck, wo es hinläuft.”
“Weißt Du eigentlich, was genau da am 7. August geplant ist?”, fragte Zach auf einmal.
“Nicht wirklich”, sagte Max. “Es soll bedeutsam sein und manches erleichtern, so war der offizielle Sprachgebrauch, glaube ich. Da kann man sich auch alles drunter vorstellen.”
“Ja, dann gehe ich mal wieder ans Aufräumen vom Archiv. Es soll ja irgendwann mal fertig sein.”
“Viel Erfolg.”
“Danke.”

Aus den Untiefen des Archivs

Zach Urity betrat das kleine Büro, das mit Schränken, Ordnern und anderen Sachen vollgestopft war, mit langsamen Schritten. Es war, als zweifelte er an seiner Gangart. Den Kopf hatte er gesenkt, aber nicht aus Demut, wie Max Tronic schnell feststellen musste, sondern weil er etwas betrachtete, das er in den Händen hielt. Von seinem Schreibtisch aus hielt Max es für ein Stück Papier, doch dann dämmerte es ihm: es handelte sich um ein Foto.

“So in Gedanken?”, sprach Max den Hereinkommenden an.
“Was? Ach so, ja”, stotterte Zach. Er trat an den Schreibtisch heran und reichte das Foto weiter. “Schau mal, das habe ich beim Sortieren des Archivs gefunden.”

Bild: Thorsten Reimnitz

Max betrachtete das Bild. Es war alt, das war eindeutig an der Farbgebung zu sehen. Alte Bilder hatten sowas an sich. Man konnte sie ungefähr der Epoche zuordnen, in der sie entstanden waren. Das war 1970er oder frühe 1980er. Das Bild zeigte einen etwa neun oder zehn Jahre alten Jungen, der auf einem Weg im Wald stand. Der Junge trug einen Parka und blaue Jeans. Der Wald sah herbstlich aus. Mit dem Bild gab es allerdings ein Problem: Es war verwackelt. Man konnte das Gesicht des Jungen nicht genau erkennen.
“Du hast doch so ein gutes Gedächtnis und kennst Dich aus”, sagte Zach. “Was meinst Du, wo das gemacht wurde?”
Max prustete los. “Was bitte? Hältst Du mich für Sherlock Holmes? Das Bild ist Jahrzehnte alt und es zeigt irgendeinen Wald. Was soll ich daraus denn erkennen?” Er drehte das Bild um. Wie es damals üblich war, hatte das Fotostudio, welches das Bild entwickelt hatte, einen Zahlencode auf die Rückseite des Bildes gedruckt. Ein Teil davon war eine Jahreszahl: 1980. “Über vierzig Jahre alt, um genau zu sein”, ergänzte Max.
“Versuch’s doch trotzdem mal.”
Max seufzte. “Hm”, brummte er und fuhr fort: “Also 1980. Würde passen. Der Junge trägt einen Parka, wie er damals Standard bei der Raumflotte war. Das bedeutet, seine Familie gehörte zum Personal einer der geheimen Basen, als die Organisation noch STAR COMMAND hieß.”
“Der Junge trägt eine Uniform?”, unterbrach ihn Zach. “Aber er kann doch nicht zum Personal gehören.”
“Das nicht”, entgegnete Max. “Aber Angehörige von Raumflottenpersonal haben damals solche Jacken bekommen. Es gab auch extra Kinderversionen davon, wie man hier sieht. Das sollte den Zusammenhalt stärken und ein Ausgleich für all die Heimlichtuerei sein. Das war gerade für die Kinder nicht immer einfach. Jemand aus der Familie des Jungen gehörte damals also zur Flotte.”
“Was sagt Dir die Umgebung?”
“Das ist ein Wald, mit Bäumen und so, was erwartest… oh Moment.” Er unterbrach sich selbst und tippte an seinen Visor. “Ich muss gerade mal was verifizieren.” Max rief Daten ab, die vor seinen Augen in den Visor projiziert wurden. Nach kurzer Zeit sagte er: “Ja, ich hab es!”
“Und was?”
“Das ist im Wald entstanden, der den Perimeter um den Haupthangar der BASIS ATLANTIS bildet. Passt alles zusammen.”
Zach pfiff durch die Zähne. “Und wie bist Du darauf gekommen?”
“Zwingende Logik und Ausschlussverfahren”, antwortete Max. “Das ist kein Tropenwald, also fallen alle Basen heraus, die es damals noch in tropischen Ländern wie Brasilien gab. Es sieht auch nicht nach Japan oder Asien aus. Scheint Europäisch zu sein. Es gibt aber nur eine europäische Basis, die sich bei einem Wald befand, in dem man als Angehöriger der Flotte gefahrlos spazieren gehen konnte: die ATLANTIS. Wo genau hast Du das Bild her?”
“Da sind ein paar Kisten im Archiv, die zwar eingelagert, aber nie sortiert wurden”, erklärte Zach. “Ich versuche, etwas mehr herauszubekommen. Aber irgendwas ist mit diesem Jungen. Fast so, als ob ich Ihn kennen würde.”
“Bist Du da sicher?” Max klang sehr zweifelnd. “Bedenke, dieser Junge ist mittlerweile vierzig Jahre älter. Du kannst in diesem Kind kein erwachsenes Gesicht wiedererkennen. Mal ganz davon abgesehen, dass das Bild verwackelt ist.”
Zach zuckte mit den Achseln. “Und wenn schon. Ich schau die Kartons mal weiter durch, vielleicht finde ich noch einen Hinweis darauf, von wem sie kommen.”

In einer Beziehung, gestern

Max Tronic machte eine Pause und klickte auf das Symbol, das ihm seinen Browser öffnete. Sogleich meldete er sich in seinem sozialen Netzwerk an, um zu erfahren, was es im Kreis seiner Freunde und Bekannten wohl neues gab. Und direkt sprang ihm eine Mitteilung ins Auge. Zum Namen und Bild einer Freundin stand da „In einer Beziehung“, und darunter: „Gestern“. Elf Personen hatten durch einen Klick schon zum Ausdruck gebracht, dass ihnen das gefiel. Die Freundin hatte also ihren Beziehungsstatus von „Single“ zu „Beziehung“ geändert, und zwar vor 17 Stunden. Max rechnete. Das musste also am vorigen Abend gegen 22 Uhr gewesen sein. Er war seit dem Abend zuvor nicht mehr in seinem Netzwerk angemeldet gewesen und die Nachricht wurde ihm angezeigt, weil so viele Leute von dieser Mitteilung begeistert waren.

„Was ist los?“, fragte Zach Urity.

Max zuckte zusammen. „Wie?“, fragte er zurück. „Du hast gerade geseufzt“, erklärte Zach. „Oder sowas ähnliches jedenfalls.“

Max schob seinen Visor zurecht. Das war eine so genannte Übersprunghandlung, etwas, das ein Mensch unbewusst tat, wenn er in einer unangenehmen Situation war. Diese Geste hatte er schon gemacht, als er noch die alte elektronische Brille getragen hatte. Er und Zach befanden sich im Hauptraum der Zentrale und bereiteten die neue Computerverbindung für den Quadrivium-Club vor. Nachdem das alte Hauptquartier Geschichte war, war das neue eingerichtet worden und sollte nun eine Modernisierung erfahren, besonders im Hinblick auf die besondere Situation, in der sich die Welt befand. Zach, der wie immer seine Arbeitsklamotten mit Helm trug, stand an einem Bildschirm, der an der Wand befestigt war, und verschraubte ein paar Kabel. Max saß auf dem Sofa am Tisch und sorgte mit einem Laptop dafür, dass die Software lief. Es sei denn, er machte Pause. So wie im Moment gerade.

„Ach“, meinte Max abwehrend, „ich hab nur grad ins Netzwerk geschaut und Mitteilungen gelesen.“

„Und das lässt Dich seufzen?“ Zach schüttelte den Kopf. „Muss ja eine sehr sehnsuchtsvolle Mitteilung gewesen sein.“

„Hab ich Dir je von Claire erzählt?“ Max‘ Frage kam überraschend. „Claire? Nicht dass ich wüsste“, gab Zach zu.

„Claire ging in die gleiche Schule, war ein Jahr unter mir. Wir haben uns im Computerkurs kennengelernt“, begann Max zu erzählen. „Sie kam immer mit ihrer Klassenkameradin, Theresa. Wir haben uns gut verstanden und irgendwann haben wir uns auch außerhalb vom Computerkurs getroffen. Tja, und so langsam fing es zu knistern an zwischen mir und Claire.“

„Äh…“ Zach ließ seinen Schraubenzieher sinken. „Das kann ich mir jetzt bei Dir irgendwie überhaupt nicht vorstellen.“

„Glaub es ruhig“, fuhr Max fort. „Es gab nur ein Problem, das ich damals nicht verstand, und auch eine lange Zeit danach nicht. Irgendwie gab es eine unsichtbare Macht, die mich zurückhielt, irgendwas zu tun. Verstehst Du, was ich meine?“

Zach verzog den Mund. „Ich weiß nicht wirklich. Sag mir, ob ich falsch liege: Du wärst gern auf sie zugegangen, hättest ihr gern Deine Gefühle offenbart, aber Du konntest nicht.“

„Genau so war es. Und das, obwohl es sehr eindeutig war, dass es ihr ähnlich ging. Leider war, wenn wir uns trafen, meistens Theresa dabei. Und dann kamen die Sommerferien, ich bin auf eine andere Schule und wir haben uns nicht mehr wiedergesehen. Zack, vorbei!“

Zach stand regungslos im Raum. So hatte er den Freund noch nie reden hören. Obwohl seine Stimme so wie immer klang, konnte man doch das Gefühl bekommen, dass ihm die ganze Sache sehr nahe ging. Und das, obwohl sie schon viele Jahre zurücklag. „Was hat das mit Deinem Netzwerk zu tun?“

„Ich habe Claire über das Netzwerk wiedergefunden“, meinte Max. „Soll ich Dir was sagen? Als ich sie anschrieb, wusste sie nicht einmal mehr, wer ich bin.“

„Hm. Vielleicht hast Du Dich geirrt, was ihre Gefühle von damals betraf?“

„Mit Sicherheit nicht!“ Der Widerspruch war heftig gewesen. „Ich will nicht jedes Detail ausbreiten, aber glaube mir, an dem letzten Tag, wo wir uns gesehen haben – und dummerweise Theresa mit dabei war – hatte nur noch ein kleines Bisschen gefehlt. Der letzte Schritt, sozusagen.“

„Du hast Dich nicht getraut, sie hat sich nicht getraut und dass die Freundin mit dabei war, hat das ganze nicht unbedingt leichter gemacht, richtig?“ Zach ging ein paar Schritte auf Max, so dass er nicht quer durch den ganzen Raum reden musste.

„Hast es erfasst“, bestätigte Max. „Ich habe mich geärgert und immer wieder gefragt, was damals schief gelaufen ist. Warum konnte ich den letzten Schritt nicht gehen. Nicht die… Initiative… ergreifen…“ Die letzten Worte trennte er von einander, so wie man einzelne Scheiben Toast von einander trennt, bevor man sie in den Toaster legt. Es klang, als sei er mit seinen Gedanken woanders.

Bild: Storyblocks

„Wann und wie wurde Dir klar, was damals schiefgelaufen war?“, wollte Zach wissen.

„Bei meiner letzten Freundin.“ Max blickte durch seine Brille ins Leere. „Die dusselige Kuh“, fügte er an. Es klang bitter. Wie Galle, die einem hochkam, wenn einem auf leeren Magen schlecht wurde. Zach stand stumm im Raum, also fuhr Max fort: „Sie war clever, intelligent und neugierig. Ich verwechselte allerdings ihre Neugierde mit Aufgeschlossenheit, denn so gab sie sich gern. Sie war weit gereist und schien nach Herausforderungen zu suchen. Aber sie hatte nicht verstanden, dass irgendwo hinreisen nicht automatisch bedeutete, dass man reich an Erfahrungen wurde. Sie betrachtete alles, was sie sah oder erlebte, wie unter einer Käseglocke. Sie sah es an, aber sie begriff es nicht.“

Er hielt inne und sah wieder hoch. „Hast Du nicht auch manchmal das Gefühl, dass Menschen Dinge zu wichtig nehmen“, fragte er, „dass sie Sachen überhöhen, die man eher mit gesundem Verstand betrachten sollte?“

Zachs Augen wanderten nach oben. Er suchte nach einem Beispiel. „Sowas wie Nationalstolz?“, gab er zurück.

„Gutes Beispiel“, konterte Max. „Und so aktuell. Aber ich meine auch auf anderen Ebenen. Beziehung zum Beispiel. Das wird so überhöht, im Ganzen und in Details. Die erste Liebe, die erste Beziehung, huiui“ – er unterstrich das Wort „huiui“, indem er mit der rechten Hand einen Wirbelsturm symbolisierte – „da muss alles nach dem Buch ablaufen. Oder die Partnerwahl. Der Prinz, der gesucht wird. Man darf nicht einfach Mensch sein, nein, man muss irgendwie überragend sein. Unbedingt. Ich war nie überragend. Ich war immer nur ich.“

„Was Dir vor Augen geführt wurde, als Claire sich nicht einmal mehr an Dich erinnerte“, stellte Zach fest.

Max nickte mit dem Kopf. „Ja. Die Tage und Abende, die wir zusammen verbracht haben, alles weg, alles ausgelöscht. Und doch, als wir uns wieder trafen, kamen wir gut miteinander klar. Wir haben uns beide weiter entwickelt, was nicht weiter verwunderlich ist, aber es wir hatten immer noch irgendwie die gleiche Wellenlänge. Wir hätten gute Freunde sein können.“

„Hätte können? Seid Ihr das nicht geworden?“

„Damit ist es jetzt wohl vorbei.“

„Warum?“

„Sie hat eine Nachricht ins Netzwerk gepostet, dass sie seit gestern in einer Beziehung ist.“

„Aber… nur weil Sie jetzt in einer Beziehung ist, heißt das doch noch lange nicht…“, begann Zach.

„Dass unsere Freundschaft beendet ist?“, unterbrach ihn Max. „Nein, aber das wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern. Sowas überlebt eine Freundschaft nie. Nicht nach meiner Erfahrung.“

„Na ja, aber solltest Du als Freund Dich dann nicht für sie freuen?“

„Oh, da sind wir ja wieder bei den Überhöhungen“, stellte Max fest. „Weißt Du, ein gewisser Teil unserer Gespräche, die wir in letzter Zeit hatten, ging darum, dass wir es beide satt hatten. Die Umwelt fordert ständig was von einem. Die Beziehung hat so und so zu sein. Man hat sich so und so zu verhalten. Und dies und jenes geht ja mal gar nicht. Wir hatten beide festgestellt, dass ein unglaubliches Anspruchsdenken auch innerhalb der Beziehungen entstanden ist. So wie bei meiner letzten. Erst fand sie mich offenbar toll, dann stellte sie fest, dass es Unterschiede gibt und dass sie mit den Unterschieden nicht leben kann, im Gegensatz zu mir. Claire ist es ähnlich gegangen. Wir stellten beide fest, dass wir zu viel mitgemacht hatten und außerdem ‚zu alt für den Mist‘ sind. Tja.“

Zach kratzte sich am Kopf. „Das sind eine Menge Dinge, die da bei Dir gerade aufeinander treffen.“

„Ja. Weißt Du, in letzter Zeit brauchte ich den Ausgleich, denn es wird mir alles zu viel. Zu viele dumme Menschen auf diesem Planeten. Und zu viele, die was von einem wollen. Die Treffen waren Inseln der Ruhe im Sturm des Lebens. Sieht so aus, als ob der Sturm nun auch diese Inseln erreicht hat. Und er hat sie leergefegt.“

„Ja, wir sind hier alle sehr stark eingespannt und so eine Freundschaft zu verlieren, ist tragisch“, bestätigte Zach und wollte seinen Freund aufmuntern: „Aber das heißt doch noch nichts. Halte doch einfach die Augen offen. Man weiß ja nie, was noch passiert. Andere Leute haben auch glückliche Beziehungen.“

Max schüttelte den Kopf. „Andere Leute“, bestätigte er, „nicht wir.“

Eine Frage der Perspektive

Noch immer wurde an der Mühlenhof-Abteilung der Basis gearbeitet. Zu Zach Urity und Bjarne Buchholz gesellte sich an diesem Tag Max Tronic, der für alles Elektronische verantwortlich war. Er sah gewöhnungsbedürftig aus mit dem Visor, der stets seine Augen verbarg. Aber, so versicherte er immer wieder, ohne den Visor müsste er eine Brille mit dicken Gläsern tragen. Da war es so doch besser, auch wenn es manche Menschen irritierte, dass auf der Oberfläche des Visors Grafiken angezeigt wurden. Dafür konnte Max aber auch mehr sehen als ein normaler Mensch. Die alte Version des Visors hatte er vor nicht allzu langer Zeit abgelegt und durch diesen neuen ersetzt.

An diesem Tag mussten neue elektronische Geräte auf die Räume verteilt und angeschlossen werden. Man fing mit der Küche an. Max kontrollierte ein Panel, als er hörte, wie Zach, der zusammen mit Bjarne gerade einen Kühlschrank die Treppe hochgeschleppt hatte, folgendes sagte: “Ach ja, Computer! Liederliste fortsetzen!”

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Wer die Lieder direkt mithören will, gehe auf die Nummer 21 und starte von da.

Der Computer der Basis bestätigte den Befehl mit einem Piepen, dann lief ein Lied an:

Steam was rising
In the Asian quarter
When she stepped out in the street
Voices dropped
And every eye was on her
As she braved the midnight heat1

Es waren viele Synthesizer zu hören. Eindeutig 1980er.
“Hey!”, rief Bjarne erfreut aus. “Hörst Du den Text. Mal was anderes!”
“Ja, wirklich!”, bestätigte Zach. “Ganz anders als das andere Zeug.”
Max zog die Stirn in Falten, sagte aber nichts. Die beiden trugen den Kühlschrank herein und brachten ihn in Position. Während sie ihn anhoben, um ihn in einem Einbauschrank zu verstauen, endete das eine Lied und das nächste begann. Doch das Lied hatte keinen Text. Es war ebenfalls mit vielen Synthesizern gespielt und klang nach vergangenen Zeiten.
“Wow!”, machte Zach. “Was ist das?”
“Einen Moment!”, sagte Max. Er bewegte den Kopf etwas und die blinkenden LEDs auf seinem Visor änderten Form und Farbe. Zach wusste, dass der Freund nun irgendetwas aufrief, eine Information, die er entweder vom Computer der Station abrief, oder aus dem Internet. Er wurde auch schnell fündig.
“Das Stück heißt ‘Magic Fly'”, meinte er schließlich. “Die Gruppe, die es spielt, nennt sich ‘Space’.”
“Okay”, murmelte Zach. “Aber eine willkommene Abwechslung. Schon das zweite!”
Max zuckte mit den Achseln. Vielleicht würde sich das Rätsel bald lösen. Zum Rhythmus von “Magic Fly” hoben Zach und Bjarne den Kühlschrank in den Einbauschrank und befestigten ihn. Dann wurde die ganze Einheit vorsichtig in Richtung Wand manövriert. Mittlerweile war das Lied zu Ende, doch schon begann ein neues:

All day, all day
I don't know why, I don't know how
I thought I loved you, but I'm not sure now
I've seen you look at strangers too many times
The love you want is of a, a different kind2

“Uuuund da sind wir wieder”, nölte Bjarne. “Zurück im Reich der Depression.”
“Reich der Depression?”, wollte Max wissen, der gerade ein paar Einstellungen vornahm, damit man den Kühlschrank würde einschalten können.
“Ja, halt so wie die anderen Lieder”, versuchte Zach eine Erklärung.
“Welche anderen Lieder?”
Zach fuchtelte mit den Händen. “Also, seit wir hier die Umbauarbeiten machen, haben wir uns eine musikalische Untermalung vom Computer geholt.”
“Ist ja nett. Und?” Max wirkte ziemlich unbeeindruckt.
“Wir haben die Liste anhand der bevorzugten Lieder von Jack, Melville, Mac und Dan zusammenstellen lassen.”
“Und da haben wir vielleicht depressives Zeug gehört, das kann ich Dir aber sagen!”, ergänzte Bjarne. “Ich weiß nicht, aber… kann es sein, dass die Jungs mindestens ein, zwei Probleme haben?”
“Probleme?” Max legte den Kopf schief. “Was meinst Du damit?”
“Also, wenn man nur das ganze Zeug hört, da wird man ja schwermütig.” Bjarne hob den Finger. Das Lied klang langsam aus. “Warte, es fängt gleich das nächste Lied an. Dann sehen wir es ja.”

Das nächste Lied begann so:

Mine, immaculate dream made breath and skin
I've been waiting for you
Signed with a home tattoo
"Happy birthday to you" was created for you
Ah, it'll take a little time
Might take a little crime to come undone
Now we'll try to stay blind to the hope and fear outside
Hey child, stay wilder than the wind and blow me in to cry3

“Da, hörst Du es?”, fragte Bjarne. “Da ist es wieder!”
“Ich höre vor allem Duran Duran singen”, erklärte Max. “Was meinst Du genau?”
“Na, der Text!”, sprang Zach ein. “Verstehst Du das: Wen brauchst Du, wenn liebst Du? Alles rückgängig machen, weinen… nicht sehr fröhlich, würde ich sagen.”
“Das ist gut möglich”, sagte Max weiterhin unbeeindruckt. “Und weiter?”
“Ja”, begann Zach und man hörte, dass er immer aufgeregter wurde, “was verrät uns das denn über den geistigen Zustand unserer Freunde?”
“Das weiß ich nicht, was verrät es uns über den geistigen Zustand unserer Freunde?”, wiederholte Max weiterhin stoisch dastehend das eben Gesagte als Rückfrage.
Bjarne sah ihn mit offenem Mund an. “Bei Dir ist auch Hopfen und Malz verloren, oder?”, brummelte er. “Jetzt warte mal, gleich beginnt ein neues Lied. Dann werden wir sehen – oder auch nicht.”

Was das Lied betraf, so war es zunächst eher “oder auch nicht”, denn man hörte die Stimme von Peter Gabriel, die scheinbar sinnlos zusammenhängend darüber trällerte, welches Kind mit welchem anderen Kind spielte, bis auf einmal der Name “Adolf” fiel und der Text eine scharfe Wendung nahm:

If looks could kill, they probably will
In games without frontiers
War without tears
If looks could kill, they probably will
In games without frontiers
War without tears
Games without frontiers
War without tears4

“Spiel ohne Grenzen”, wiederholte Bjarne dramatisch, “Krieg ohne Tränen!”
“Was ja erstmal nichts Schlechtes wäre”, stellte Max fest. “Also, all diese Liedtexte veranlassen Euch zu einer psychischen Ferndiagnose unserer Freunde?”
“Na, ist doch naheliegend!”, behauptete Zach.
“Ach sooooo”, sagte Max, “das ist naheliegend, ja? Dann lümmeln also die ganzen Menschen, die Psychologie studieren, ein paar Jahre auf der Uni rum, bis sie am Ende ihren Abschluss fürs Nichtstun kriegen, weil ist ja alles naheliegend?”
Bjarne verzog das Gesicht. “So wie Du das formulierst, klingt es irgendwie idiotisch.”
“Weil es das auch ist!”, platzte es aus Max heraus. “Nach allem, was die letzten Jahre war, sind wir alle doch mit den Nerven runter. Vor allem, wenn man zur vernünftigen Fraktion gehört und sich mit Leugnern und militanten Quatschrednern rumschlagen muss! Ihr braucht gar nicht so ‘tough’ zu tun, Euch nimmt das genauso mit. Und wenn die Jungs das auf diese Weise verarbeiten, ist das doch gut. Musik hat eine große Macht, Gefühle herauszuholen. Und es sind ja auch andere Lieder mit dabei. Wartet mal, mal schauen, was jetzt kommt.”

Sie warteten gespannt. Das nächste Lied klang so, als wollte jemand musikalisch beschreiben, wie eine Schüssel voll Popcorn zubereitet wird, man hörte das Zischen des Fetts und das ploppen der Körner. Und genau das war es auch, was das Lied darstellen sollte, es hieß “Popcorn”. Bjarne und Zach nickten. Sie lauschten der musikalischen Popcornzubereitung bis zum Ende. Dann wurde wieder synthesizerunterstützt gesungen:

Did you get what you want?
Do you know what it is?
Do you care?
Is he better than me?
Was it your place or his?
Who was there?
Did you think it was wrong?
Do you find that it's worse
Than it was?5

“Das erinnert mich an meine erste Freundin”, musste Zach zugeben. “Da wusste ich am Ende auch nicht, was sie wollte.”
“Na siehst Du!”, sagte Max. “Das ist doch der Sinn von Kunst. Wir finden etwas von uns selbst wieder. Nicht immer und nicht überall und vor allem nicht immer zu 100 Prozent, aber doch irgendwie. So ein Lied kann einem helfen, den Schmerz zu überwinden – oder erstmal herauszulassen. Das muss man nicht pathologisieren.”
“Hm”, machte Bjarne und lächelte, “wie klug Du bist.”
“Logisch”, gab Max zurück. “Ich bin ja auch fünf- bis siebenmal intelligenter als Ihr.”
Jetzt lachten Bjarne und Zach. “Ach so”, sagte Zach. “Das kannst Du natürlich beweisen.”
“Klar!”, erwiderte Max selbstbewusst. “Sag eine natürliche Zahl zwischen eins und neun!”
Zach zuckte mit den Achseln. “Sieben”, antwortete er.
“Falsch!”, fuhr ihm Max in die Parade. “Siehst Du?”
Er blickte unsicher zu Bjarne. War das jetzt ein Witz gewesen? Doch viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, denn schon schob Max nach: “Na los, lass uns weitermachen. Wir haben noch was zu tun.”
“Ja klar”, fügte sich Zach. “Computer, Musik anhalten und Position in der Liste abspeichern.”
Der Computer antwortete mit einem fröhlichen Piepen und die drei gingen weiter ihrer Arbeit nach.


1 – Robbie Nevil: “Dominoes”
2 – Pet Shop Boys: “Domino Dancing”
3 – Duran Duran: “Come Undone”
4 – Peter Gabriel: “Games Without Frontiers”
5 – Pet Shop Boys: “I don’t know what you want but I can’t give it anymore”

Die Fenster zum Hof

Noch mehr Arbeit gab es zu tun für Zach Urity und Bjarne Buchholz, auch wenn das ganze langsam Formen annahm. Der Mühlenhof war wie verwandelt. Am heutigen Tag kam ein Transporter an, aus dem kleine, längliche, braune Pakete ausgeladen wurden. Zach überprüfte die Lagerlisten und stellte fest, dass alles vollständig ist.

“Was haben wir denn da?”, wollte Bjarne wissen. “Was gibt es heute zu tun?”
“Die Fenster sind dran”, antwortete Zach. “Das hier sind Jalousien, die montiert werden müssen. Damit keiner von draußen reinschauen kann.”
“Okay. Ach ja, hast Du gehört, dass die Organisation die ATLANTIS übernehmen will?”
Zach zog die Stirn kraus. “Die ATLANTIS gehört der Organisation doch schon?”
“Ja, nein, nicht so wirklich”, erklärte Bjarne. “Die Liegenschaften gehören der Organisation nicht, die sind nur gemietet. Doch jetzt will man sie ganz übernehmen. Zum Jubiläum hin.”
“Da wird sich Commander Jung aber freuen”, meinte Zach und nahm ein Paket auf.
“Glaub ich nicht so. Hab gehört, sie will sich versetzen lassen.”
“Was?” Urity sah verwirrt aus. “Sie ist doch noch gar nicht so lang auf dem Posten.”
“Nein, ist sie nicht. Aber sie will wohl doch lieber was anderes machen.”
“Wenn sie meint.”

Die beiden trugen ein paar Jalousien ins erste Zimmer. Als sie bereit waren, diese zu montieren, sah Bjarne Zach erwartungsvoll an.
“Was ist?”, wollte Zach wissen.
“Du weißt, was jetzt kommt!”, entgegnete Bjarne.
“Oh, nein – nicht schon wieder!”
“Oh doch!” Dann wandte sich Buchholz an den Computer: “Computer, die Auswahlliste von letztem Mal fortsetzen!”
Damit erklangen von neuem Lieder.

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Wer mithören möchte, während unsere Helden die Lieder interpretieren, der wähle auf der Liste das Lied Nr. 15 und lasse die Musik ab da laufen.

Das erste Lied wurde mit Gitarren untermalt:

Earth is the loneliest planet of all
Earth is the loneliest planet of all
Day after day you say one day, one day
Day after day you say one day, one day
But you're in the wrong place, and you've got the wrong face
And humans are not really very humane
And earth is the loneliest planet of all1

“Und zack!”, meinte Zach. “Stimmung im Keller. Was hast Du erwartet? Die Amboss-Polka?”
“Jetzt wart doch mal ab!”
“Wir haben das jetzt schon mehrmals durch. Es wird nun mal nicht besser.”

Das nächste Lied kam mit Synthesizern daher und klang, als würde es direkt aus den 1980er Jahren stammen, obwohl es relativ modern war:

Yeah
I've been tryna call
I've been on my own for long enough
Maybe you can show me how to love, maybe
I'm going through withdrawals
You don't even have to do too much
You can turn me on with just a touch, baby2

“Ist mal was anderes, zumindest vom Klang her”, fand Bjarne.
“Ja”, erwiderte Zach. “Aber es geht schon wieder um Liebe!”

Das nächste Lied klang nicht nur nach klassischen 1980ern, es war auch in diesem Umfeld entstanden:

When I took you out
I knew what you were all about
But when I did
I didn't mean to turn you on
Now I bring you home
You told me goodnight's not enough for you
I'm sorry baby
I didn't mean to turn you on
No, I didn't mean to turn you on3

Zach seufzte leise und sagte nichts. Er blickte nur vorwurfsvoll. Die erste Jalousie hatte ihren Platz am Fenster gefunden. Und schon war das nächste Lied zu hören, das genauso 1980er war, wie es die Pet Shop Boys nur sein konnten:

Every time I see you something happens to me
Like a chain reaction between you and me
My heart starts missing a beat
My heart starts missing a beat
Every time
Oh oh oh, every time4

Schweigend wurde weitergearbeitet. Das nächste Lied war ebenfalls wieder moderner, aber klassisch bearbeitet:

 know there's no form
And no labels to put on
To this thing we keep
And dip into when we need
And I don't have the right
To ask where you go at night
But the waves hit my head
To think someone's in your bed5

Die nächste Jalousie war an dem Fenster, an das sie gehörte, angebracht worden. Die Pet Shop Boys begleiteten daraufhin den nächsten Arbeitsschritt:

Another night with open eyes
Too late to sleep, too soon to rise
You're short of breath, is it a heart attack?
Hot and feverish you face the fact
You're in love and it feels like shame
Because she's gone and made a fool of you in public again
You're in love and it feels like pain
Because you know there's too much truth in everything she claims6

“Okay, wieviel waren das?”, meinte Zach auf einmal.
“Lieder? Ich glaube sechs, wieso?”
“Schön, dann ist jetzt Pause für mindestens eine Woche. Mehr halte ich hier nicht aus. Wenn die Jungs von ihrer… ihrem… Dingsda… wieder da sind, müssen wir wirklich dringend mit ihnen reden.”
Damit wandte er sich erneut an den Computer: “Computer, Musik unterbrechen und Position in der Liste abspeichern für später.”
“Jawohl, Sir”, antwortete die elektronische Stimme und augenblicklich herrschte Stille.


1 – Morrissey: “Earth is the lonliest Planet”
2 – The Weeknd: “Blinding Lights”
3 – Robert Palmer: “I didn’t mean to turn you on”
4 – Pet Shop Boys: “Heart”
5 – Miike Snow: “Genghis Khan”
6 – Pet Shop Boys: “Can you forgive her?”

Mit einem kleinen Lied wird die Arbeit nicht stupid

An diesem Tag waren sie zu viert. Es waren nicht nur Zach Urity und Bjarne Buchholz, sondern auch noch Max Krause und ein weiterer Mitarbeiter dabei, den Krause nur als “Wolfgang” vorgestellt hatte. Wolfgang war neu, erfahren und mit der Lagerverwaltung vertraut. Und das war wichtig, damit nicht alles durcheinander geriet. Krause hingegen war der Abteilungsleiter der Logistik der Basis, deren Name offenbar noch nicht feststand. Zach und Bjarne hatten, so wie geplant, mal nachgefragt, aber auch Krause konnte ihnen keine Antwort geben.

“Hm, ich weiß nicht”, hatte er gesagt. “Wir reden in den Besprechungen immer nur von ‘der Basis’ und vom ‘Mühlenhof’. Ich glaube nicht, dass ein neuer Name schon festgesetzt ist.”
“Jou”, hatte Wolfgang bestätigt.

Dann hatte Krause die drei ihrer Arbeit überlassen. Die Bestand heute darin, die abgebauten Teile der alten Betten einzulagern.
“Was tun wir denn damit?”, fragte Bjarne.
“Soweit ich weiß”, antwortete Wolfgang, “werden wir sie erstmal lagern. Und wenn der ganze Umbau der Basis und so vorbei ist, werden wir sie verkaufen, damit das Lager nicht so voll ist.”
“Wie kam man eigentlich darauf, neue Betten anzuschaffen?”, hakte nun Zach nach.
“Och, es waren ja nicht nur die Betten”, kam es zurück, “Ausrüstung, Einsatzkleidung, Schuhe, you name it. Das passiert halt, wenn man einen Profi ans Werk lässt.”
“Wie meinst Du das?”
“Der neue Chief Admiral von ASTROCOHORS SOLAR, dieser McCloud ist einsatzerfahren. Und er weiß, mit was wir bisher gearbeitet haben.”
Bjarne sah verwirrt aus. “Nochmal – wie meinst Du das?”
“Hat es Euch nicht gewundert, dass die Einsatzstiefel so schnell kaputt gegangen sind? Oder die Hosen und Uniformoberteile sehr schnell Löcher gekriegt haben? Oder die Einsatzjacken? So passiert es halt, wenn man kalkuliert wie die Flotte früher – billigstes Angebot wird angeschafft. Und ständig muss erneuert werden. Doch damit ist jetzt Schluss.”
“Ah, jetzt verstehe ich.”
“Gut. Damit zur Arbeit. Wir haben uns schon zu lange aufgehalten.”

Der Mühlenhof bei Seeweiler im Schwarzwald.

Wolfgang zeigte den beiden den zweiten Dachboden vom Hauptgebäude, den man über eine breite Treppe betreten konnte. Genug Platz, um Material hochzuschleppen. Oben angekommen ging es um die Ecke, dann den Gang entlang, bis sie vor einer Tür standen, neben der die Nummer “15” an der Wand stand. Wolfgang holte einen Schlüssel raus und schloss auf. In dem Raum dahinter waren schon Kisten eingelagert.
“Die Einzelteile der Betten kommen hier nach vorne”, sagte er dann, “damit wir nicht so weit schleppen müssen, wenn sie verkauft sind und abgeholt werden.”
“Dann lass uns anfangen”, meinte Zach und ergänzte an Bjarne gewandt: “Sollen wir es nochmal mit dem Liederraten probieren?”
“Von mir aus. Ich glaub aber nicht, dass wir sehr viel besser werden.”
“Liederraten?”, wollte Wolfgang wissen. “Wovon redet Ihr?”
“Beim letzten Mal”, erklärte Zach, “haben wir uns von Cosilexa eine Liste von Liedern zusammenstellen lassen, aus der Musikauswahl der Jungs vom Quadrivium Club. Wir haben versucht zu raten, von wem welches Lied kommt. Aber es war etwas deprimierend.”
“Dann lasst uns das doch machen”, munterte Wolfgang ihn auf. “Du weißt doch, was man sagt: Mit einem kleinen Lied wird die Arbeit nicht stupid.”
“Roll credits”, murmelte Bjarne.
“Was?”
“Das ist so ein Spruch”, führte Bjarne aus. “Du hast gerade was gesagt, das der Titel für… einen Film oder die Episode einer Serie sein könnte. Und in irgendso einer blöden Parodieshow heißt es immer, wenn der Titel genannt wird: ‘Roll credits’, also quasi ‘fahrt den Abspann ab’. Soll ein Metawitz sein.”
“Ist aber nicht metawitzig.”
“Stimmt wohl”, bestätigte Zach und sprach in den Raum: “Cosilexa, Musikliste von letzter Woche aufrufen und weiter abspielen!”
“Alles klar”, gab die Computerstimme zurück. Augenblicklich war ein beschwingtes Musikstück zu hören.
“Oh”, sagte Bjarne, als die drei die Treppe wieder heruntergingen, “das klingt ja mal ganz anders als die anderen Lieder.”
“Ja”, bestätigte Zach, “aber hör mal auf den Text.”

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Wer mit Zach, Bjarne und Wolfgang mithören will, rufe auf der Liste ab Lied Nr. 7 auf und lese weiter.

The city streets are empty now
(The lights don't shine no more)
And so the songs are way down low1

“Oh nein”, gab Bjarne zurück, “der Text… es klingt ja sehr gut, aber der Text ist wieder so depressiv.”
“Ist er”, meinte Zach, “aber vielleicht wird es ja dann endlich besser.”
Die drei gingen auf den Hof und nahmen Einzelteile der alten Betten auf, die sie dann die Treppen nach oben hochtrugen. Leider gab es keine futuristische Technologie, die ihnen helfen konnte. ASTROCOHORS SOLAR hatte, was das betraf, nur beschränkte Möglichkeiten. Hier war also Muskelarbeit gefragt. Als die drei zum ersten Mal Teile im Lagerraum 15 abluden, war das nächste Lied dran, das von drei Frauen gesungen und von wenig Musikinstrumenten gespielt wurde. Es klang sehr klassisch:

“Hi!” said the blackbird sitting on a chair.
“Once I courted a lady fair;
She proved fickle and turned her back,
And ever since then I’ve dressed in black.”2

“Okay”, versuchte Bjarne seinen Eindruck wiederzugeben, “klingt schön, ist vom Text her aber auch nicht besser.”
“Das mag damit zusammenhängen”, entgegnete Zach, “dass ein Großteil der Lieder, die etwas bekannter sind, von Liebe handeln. Entweder der glücklichen oder der erfolglosen Liebe. Oder wie bei diesem Lied, bei dem es einfach ums ‘den Hof machen’ geht.”
“Vögel und Bienen”, grinste Wolfgang, “wie früher.”

”Hi!” said the little leather-winged bat.
“I will tell you the reason that,
Reason that I fly in the night;
Because I’ve lost my heart’s delight.”2

Klassisch begleitet wurden die nächsten Teile die Treppe hochgetragen. Dann begann ein neues Lied, das sehr nach den 1970er Jahren klang, aber die Sprache war wiederum sehr merkwürdig:

Prisencolinensinainciusol
In de col men seivuan
Prisencolinensinainciusol ol rait3

“Wa-wa-wa… Moment, was?”, stotterte Zach. “Was ist das für eine Sprache?”

Uis de seim cius nau op de seim
Ol uait men in de colobos dai
Trrr ciak is e maind beghin de col
Bebi stei ye push yo oh3

“Hm”, überlegte Bjarne, “klingt verdächtig nach der Sprache der Usovai’i. Vielleicht ein altes Usovai’i-Volkslied?”
“Mit der Mundharmonika gespielt?”, gab Zach zurück. “Das erscheint mir doch sehr unwahrscheinlich.”
“Vielleicht ist es ein terranisches Cover?”, warf Wolfang ein.
“Egal was es ist”, sagte nun wieder Bjarne, “es ist eine Abwechslung mit dem ganzen trübsinnigen Zeug.”
Einen Erfolg hatte die Musik auf jeden Fall: Die Arbeit ging gut voran. Und das nächste Lied klang schon wieder etwas vertrauter:

It was me on that road
But you couldn't see me
Too many lights out, but nowhere near here
It was me on that road
Still you couldn't see me
And then flash lights and explosions4

“Uuund schon sind wir wieder in der depressiven Abteilung”, stellte Bjarne fest.
“Ihr solltet mit den Typen mal reden”, meinte Wolfgang. “Vielleicht haben sie ja tiefere Probleme.”
“Die Gruppe, die das singt, kommt aus Norwegen”, erklärte Zach, “die Skandinavier sind für launische Musikstücke bekannt.”
Während sie weiter dem Text lauschten, wanderten immer mehr Einzelteile ins Lager. Dann begann ein neues Lied, eindeutig ein Produkt der 1980er Jahre und es war die Stimme von Elton John zu hören:

We follow the dog who follows the cat
We swallow the chain if they don't fight back
We come and go, just getting by
We got a flag on the moon, we got a hole in the sky5

Love is a cannibal, ich fasse es nicht”, seufzte Zach. “Die Jungs haben echt ein Problem.”
“Das Lied kenne ich gar nicht, und ich kenne einiges von Elton John”, sagte Bjarne.
“Ist auch keins von seinen Bekannteren. Aber es war in einem Film, in ‘GHOSTBUSTERS 2’.”
“Ah ja.”
Das Lied wurde von einem Musikstück mit vielen elektrischen Gitarren abgelöst, das etwas härter klang, aber der Text war unverkennbar:

Here we stand
Worlds apart, hearts broken in two, two, two
Sleepless nights
Losing ground, I'm reachin' for you, you, you6

“Okay, es reicht mal wieder”, legte Zach fest. “Cosilexa, Wiedergabe unterbrechen und Stelle merken. Wir kommen vielleicht darauf zurück. Irgendwann.”
“Verstanden”, gab der Computer zurück.
Die restlichen Teile mussten nun ohne musikalische Begleitung ihren Weg in den Lagerraum 15 finden.


1 – Electronic Light Orchestra: “Turn To Stone”
2 – Traditional: “The Bird’s Courting Song”
3 – Adriano Celentano: “Prisencolinensinainciusol”
4 – Röyksopp: “What Else Is There?”
5 – Elton John: “Love Is A Cannibal”
6 – Journey: “Separate Ways (Worlds Apart)”

Der Name der…

Seit einer Woche waren Zach Urity und Bjarne Buchholz nun dran, das Innere der neuen Basis im Mühlenhof bei Seeweiler im Schwarzwald zu richten. Zach hatte immer den Überblick, was genau geschehen sollte. Die Arbeit ging Schritt für Schritt voran. Die beiden hatten das neue Lager sortiert und die vielen Kisten, die die Mitglieder des Quadrivium-Clubs aus ihrem alten Hauptquartier mitgebracht hatten, nach dort verfrachtet. Damit wurde im Wohnbereich weniger Platz benötigt und man konnte diesen umgestalten. Heute war etwas besonderes dran.

Bild: Thorsten Reimnitz

“Okay”, stellte Zach fest, “heute werden wir die neuen Schlafräume fertig einrichten, mit den neuen Betten. Außerdem werden wir den Kleiderbestand austauschen gegen neue Sachen. Die alten – die teilweise wirklich alt sind – kommen in die Altkleidersammlung.”
“Alles klar, Chef”, erwiderte Bjarne, “aber wie wäre es mit etwas Ablenkung während der Arbeit?”
“Hm… hast recht.” Zach hob den Kopf und sprach in den Raum: “Cosilexa?”
Eine weibliche Computerstimme antwortete: “Cosilexa hört.”
“Kannst Du uns etwas Musik spielen?”
“Ja, das ist möglich”, war die Antwort des Zentralcomputers der Basis. “Aber ich bräuchte ein paar genauere Angaben. Welche Musik darf ich denn abspielen?”
Zach und Bjarne sahen sich an. Beide hatten keine Ahnung, was sie antworten sollen. Schließlich hatte Zach eine Idee.

“Cosilexa, hast Du schon mal Musik zur Unterhaltung hier in der Basis gespielt?”, fragte er.
“Positiv. Die Mitglieder des Teams von Quadrivium-Club haben mich hin und wieder um Musik gebeten.”
“Kannst Du uns einfach eine Liste zusammenstellen aus deren Musikgeschmack und das ganze in zufälliger Reihenfolge abspielen?”
“Positiv. Haben Sie eine Höchstanzahl an Liedern, die ich vorbereiten soll?”
“Pff… nein.”
“Verstanden. Ich habe eine Liste aus 36 Liedern kompiliert und werde diese nun abspielen. Falls Sie mehr wünschen, geben Sie Bescheid.”
“Alles klar.”

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[ Wer mit Zach und Bjarne fühlen will, kann diese Liste abspielen während des Lesens des restlichen Kapitels. ]

Als erstes war ein Orchester zu hören. Streicher. Holzblasinstrumente. Dann nahm das Stück einen dramatischen Verlauf. Bjarne blickte Zach ungläubig.
“Wer von denen hat wohl so einen Musikgeschmack?”, fragte er.
“Keine Ahnung”, antwortete Zach. “Klingt aber ganz hübsch.”
“Wenn Du meinst. Aber wie wäre es, wenn wir uns die Arbeit etwas leichter machen und ein kleines Quiz veranstalten?”
“Was für ein Quiz?”
“Wir versuchen zu raten, wessen Musikgeschmack das Lied am ehesten entspricht: Mac, Jack, Melville oder Dan. Wie wär’s?”
“Wenn das die Arbeit leichter macht – gerne.”

Während das Stück weiterlief, bereiteten die beiden die Einzelteile der neuen Betten vor. Jedes Bett war aus sechs Teilen zusammengestellt, die in die Räume von Gebäude 2 transportiert werden mussten. Hier war die Unterkunft. Die alten Betten lagerten schon in Einzelteile zerlegt auf dem Hof. Sie würden bald ins Lager gebracht werden. Aber jetzt musste man die Abwesenheit der Leute vom Quadrivium-Club nutzen und die Zimmer richten. Während die beiden am ersten Zimmer zugange waren, endete das Orchesterstück. Ein Klavier war zu hören, dann die Stimme eines Mannes, der sanft ein paar Zeilen sang.

In a matter of a moment
Lost till the end of time
It's the evening of another day
And the end of mine1

Dann wechselte es auch hier in einen etwas dramatischeren Stil, bevor es weiterging:

Now the starlight which has found me
Lost for a million years
Tries to linger as it fills my eyes
'Till it disappears1

“Hm”, brummte Zach, “Alan Parsons Projekt, Some Other Time. Das würde zu allen vieren passen.”
“Wie lange kennst Du Sie eigentlich schon?”
“Weiß ich schon gar nicht mehr. Ich habe alles mitbekommen, wie sie hier angefangen haben bis jetzt zur Gründung vom Club.”

Sie hatten die Bettkästen des ersten Bettes ans Kopfstück angeschraubt und waren gerade mit dem Fußteil beschäftigt, als dieses Lied beendet war und ein neues begann. Das Stück war wesentlich beschwingter. Ein Klavier herrschte vor und wieder sang ein Mann:

Ali dances and the audience applauds
Though he's bathed in sweat, he hasn't lost his style
Ali don't you go downtown
You gave away another round for free, whoa2

“Vielleicht war das eine blöde Idee mit dem Wettbewerb”, musste Bjarne zugeben. “Bei dem Lied wüsste ich jetzt auch nicht… passt irgendwie zu allen…”

I've got the old man's car
I've got a jazz guitar
I've got a tab at Zanzibar
Tonight that's where I'll be, I'll be2

Sie schraubten weiter. Als das Fußteil ebenfalls an den Bettkästen befestigt war, kam schon das nächste Lied:

The fishing boats go out across the evening water
Smuggling guns and arms across the Spanish border
The wind whips up the waves so loud
The ghost moon sails among the clouds
Turns the rifles into silver on the border3

“Ich muss Dir recht geben”, stellte Zach fest. “Blöde Idee. Die Lieder sind ganz nett. Aber auch bei dem hier wüsste ich nicht, wem ich das zuordnen sollte. Holen wir die Matratzen und schauen weiter.”
Sie setzten das Bett weiter zusammen. Zuletzt legten sie den Topper oben drauf. Dann gingen sie ins nächste Zimmer. Immer im Fluss bleiben, hatte sich Zach gesagt. Erst in allen Zimmer die Betten, dann den Rest. Stück für Stück. Während sie wieder mit dem Aufbau der Schlafstatt anfingen, klang auch schon das nächste Lied aus dem Lautsprechern des Basiscomputers, elektronisch und irgendwie tragisch:

I thought I knew you well
But all this time I could never tell
I let you get away
Haunts me every night and every day4

“Na endlich!”, rief Zach aus, während er eine Schraube festzog. “Ich kann mir vorstellen, wer sich das angehört hat, immer wieder und wieder.”
“Und, wer?”
“Mac. Eindeutig.”
“Meinst Du?”
“Ich weiß ja nicht, was da bei seiner letzten Beziehung schiefgegangen ist, aber irgendwas hat ihn da sehr mitgenommen. Auch sein Singledasein bekommt ihm nicht. Ich glaube, er fühlt sich sehr verlassen.”
“Singles sind sie ja alle.”
“Aber keiner redet so häufig davon wie Mac. Es sind jetzt bestimmt… na… sechs Jahre, vermute ich.”
“Irgendwie traurig. Versucht er den was dagegen zu tun?”
“Ich denke, er hat von den Vieren die meisten Dating-Apps auf dem Smartphone.”
“Ob das was bringt?”
“Keine Ahnung. Bisher ja wohl eher nicht.”

Die beiden schraubten weiter. Das eine Lied, das vom “Gestern” und der verlorenen Liebe sprach, klang aus und ein sehr dynamisches Stück begann in einer Sprache, die weder Zach noch Bjarne verstanden:

Jorge vem de lá da Capadócia
Montado em seu cavalo
Na mão a sua lança
Defendendo o povo do perigo
Das mazelas do inimigo
Vem trazendo a esperança5

“Was?”, stotterte Bjarne überrascht. “Ist das Spanisch?”
“Dafür ist es nicht hart genug”, entgegnete Zach. “Italien- Nein! Portugiesisch! Dann ist alles klar!”
“Ist es?”
“Ja, da kommt nur Jack in Frage. Er war vor ein paar Jahren in Brasilien, ich wette mit Dir, das Lied kommt von da.”
“Was Du alles weißt.”

Sie arbeiteten weiter. Als sie zum Fußteil kamen, erklang ein neues Lied, das so gar nichts mit der Dynamik des letzten gemein hatte. Es klang eher traurig und wurde von einer Frau gesungen:

Hoy en mi ventana brilla el sol
Y el corazón
Se pone triste contemplando la ciudad
Porque te vas6

“Boah, wieder sowas trübsinniges”, bemerkte Bjarne.
“Aber diesmal ist es Spanisch, glaube ich. Kommt wohl wieder nur einer in Frage.”
“Oder vielleicht geht es allen nahe und nur Mac redet drüber. Ich sag Dir was, wir hören uns das nächste Lied noch an, und wenn das auch so depressiv ist, lassen wir das ganze erstmal. Wir haben schließlich Arbeit zu erledigen, das geht nicht so gut, wenn mir die Jungs die ganze Zeit über Leid tun!”
“Einverstanden.”
Sie schraubten weiter und das nächste Lied kam. Es wurde aber nicht besser, im Gegenteil, erst kam eine Werbung für einen Essenlieferdienst, dann wurde es wieder depressiv:

Round
Like a circle in a spiral
Like a wheel within a wheel
Never ending or beginning
On an ever spinning reel
Like a snowball down a mountain
Or a carnival balloon
Like a carousel that's turning
Running rings around the moon7

“Okay, das reicht!”, sagte Zach. “Cosilexa, Musik unterbrechen. Merk Dir die Stelle, an der wir waren.”
“Verstanden.”
“Wir machen jetzt einfach weiter”, erklärte er. “Vielleicht kommen wir bei anderer Gelegenheit auf das Spiel zurück.”
“Alles klar!”

Damit machten sie sich fortan ohne musikalische Begleitung an die Arbeit. Doch plötzlich sah Bjarne auf.
“Du, sagt mal…”, begann er.
“Ja, was?”
“Wie heißt sie eigentlich?”
“Wie heißt wer?”, entgegnete Zach verwirrt.
“Die Basis hier. Die Hauptbasis heißt ATLANTIS. Und die hier?”
“Äh, keine Ahnung. Mühlenhof ist die historische Bezeichnung. Aber ob die Basis auch so genannt wird – keine Ahnung.”
“Müssen wir mal fragen.”
“Sollten wir.”


1 – Alan Parsons Projekt: “Some Other Time”
2 – Billy Joel: “Zanzibar”
3 – Al Stewart: “On The Border”
4 – Foreigner: “Yesterday”
5 – Seu Jorge: “Alma de Guerreiro”
6 – Jeannette: “Porque Te Vas”
7 – Noel Harrison: “Windmills Of Your Mind”