Max Tronic machte eine Pause und klickte auf das Symbol, das ihm seinen Browser öffnete. Sogleich meldete er sich in seinem sozialen Netzwerk an, um zu erfahren, was es im Kreis seiner Freunde und Bekannten wohl neues gab. Und direkt sprang ihm eine Mitteilung ins Auge. Zum Namen und Bild einer Freundin stand da „In einer Beziehung“, und darunter: „Gestern“. Elf Personen hatten durch einen Klick schon zum Ausdruck gebracht, dass ihnen das gefiel. Die Freundin hatte also ihren Beziehungsstatus von „Single“ zu „Beziehung“ geändert, und zwar vor 17 Stunden. Max rechnete. Das musste also am vorigen Abend gegen 22 Uhr gewesen sein. Er war seit dem Abend zuvor nicht mehr in seinem Netzwerk angemeldet gewesen und die Nachricht wurde ihm angezeigt, weil so viele Leute von dieser Mitteilung begeistert waren.
„Was ist los?“, fragte Zach Urity.
Max zuckte zusammen. „Wie?“, fragte er zurück. „Du hast gerade geseufzt“, erklärte Zach. „Oder sowas ähnliches jedenfalls.“
Max schob seinen Visor zurecht. Das war eine so genannte Übersprunghandlung, etwas, das ein Mensch unbewusst tat, wenn er in einer unangenehmen Situation war. Diese Geste hatte er schon gemacht, als er noch die alte elektronische Brille getragen hatte. Er und Zach befanden sich im Hauptraum der Zentrale und bereiteten die neue Computerverbindung für den Quadrivium-Club vor. Nachdem das alte Hauptquartier Geschichte war, war das neue eingerichtet worden und sollte nun eine Modernisierung erfahren, besonders im Hinblick auf die besondere Situation, in der sich die Welt befand. Zach, der wie immer seine Arbeitsklamotten mit Helm trug, stand an einem Bildschirm, der an der Wand befestigt war, und verschraubte ein paar Kabel. Max saß auf dem Sofa am Tisch und sorgte mit einem Laptop dafür, dass die Software lief. Es sei denn, er machte Pause. So wie im Moment gerade.
„Ach“, meinte Max abwehrend, „ich hab nur grad ins Netzwerk geschaut und Mitteilungen gelesen.“
„Und das lässt Dich seufzen?“ Zach schüttelte den Kopf. „Muss ja eine sehr sehnsuchtsvolle Mitteilung gewesen sein.“
„Hab ich Dir je von Claire erzählt?“ Max‘ Frage kam überraschend. „Claire? Nicht dass ich wüsste“, gab Zach zu.
„Claire ging in die gleiche Schule, war ein Jahr unter mir. Wir haben uns im Computerkurs kennengelernt“, begann Max zu erzählen. „Sie kam immer mit ihrer Klassenkameradin, Theresa. Wir haben uns gut verstanden und irgendwann haben wir uns auch außerhalb vom Computerkurs getroffen. Tja, und so langsam fing es zu knistern an zwischen mir und Claire.“
„Äh…“ Zach ließ seinen Schraubenzieher sinken. „Das kann ich mir jetzt bei Dir irgendwie überhaupt nicht vorstellen.“
„Glaub es ruhig“, fuhr Max fort. „Es gab nur ein Problem, das ich damals nicht verstand, und auch eine lange Zeit danach nicht. Irgendwie gab es eine unsichtbare Macht, die mich zurückhielt, irgendwas zu tun. Verstehst Du, was ich meine?“
Zach verzog den Mund. „Ich weiß nicht wirklich. Sag mir, ob ich falsch liege: Du wärst gern auf sie zugegangen, hättest ihr gern Deine Gefühle offenbart, aber Du konntest nicht.“
„Genau so war es. Und das, obwohl es sehr eindeutig war, dass es ihr ähnlich ging. Leider war, wenn wir uns trafen, meistens Theresa dabei. Und dann kamen die Sommerferien, ich bin auf eine andere Schule und wir haben uns nicht mehr wiedergesehen. Zack, vorbei!“
Zach stand regungslos im Raum. So hatte er den Freund noch nie reden hören. Obwohl seine Stimme so wie immer klang, konnte man doch das Gefühl bekommen, dass ihm die ganze Sache sehr nahe ging. Und das, obwohl sie schon viele Jahre zurücklag. „Was hat das mit Deinem Netzwerk zu tun?“
„Ich habe Claire über das Netzwerk wiedergefunden“, meinte Max. „Soll ich Dir was sagen? Als ich sie anschrieb, wusste sie nicht einmal mehr, wer ich bin.“
„Hm. Vielleicht hast Du Dich geirrt, was ihre Gefühle von damals betraf?“
„Mit Sicherheit nicht!“ Der Widerspruch war heftig gewesen. „Ich will nicht jedes Detail ausbreiten, aber glaube mir, an dem letzten Tag, wo wir uns gesehen haben – und dummerweise Theresa mit dabei war – hatte nur noch ein kleines Bisschen gefehlt. Der letzte Schritt, sozusagen.“
„Du hast Dich nicht getraut, sie hat sich nicht getraut und dass die Freundin mit dabei war, hat das ganze nicht unbedingt leichter gemacht, richtig?“ Zach ging ein paar Schritte auf Max, so dass er nicht quer durch den ganzen Raum reden musste.
„Hast es erfasst“, bestätigte Max. „Ich habe mich geärgert und immer wieder gefragt, was damals schief gelaufen ist. Warum konnte ich den letzten Schritt nicht gehen. Nicht die… Initiative… ergreifen…“ Die letzten Worte trennte er von einander, so wie man einzelne Scheiben Toast von einander trennt, bevor man sie in den Toaster legt. Es klang, als sei er mit seinen Gedanken woanders.
„Wann und wie wurde Dir klar, was damals schiefgelaufen war?“, wollte Zach wissen.
„Bei meiner letzten Freundin.“ Max blickte durch seine Brille ins Leere. „Die dusselige Kuh“, fügte er an. Es klang bitter. Wie Galle, die einem hochkam, wenn einem auf leeren Magen schlecht wurde. Zach stand stumm im Raum, also fuhr Max fort: „Sie war clever, intelligent und neugierig. Ich verwechselte allerdings ihre Neugierde mit Aufgeschlossenheit, denn so gab sie sich gern. Sie war weit gereist und schien nach Herausforderungen zu suchen. Aber sie hatte nicht verstanden, dass irgendwo hinreisen nicht automatisch bedeutete, dass man reich an Erfahrungen wurde. Sie betrachtete alles, was sie sah oder erlebte, wie unter einer Käseglocke. Sie sah es an, aber sie begriff es nicht.“
Er hielt inne und sah wieder hoch. „Hast Du nicht auch manchmal das Gefühl, dass Menschen Dinge zu wichtig nehmen“, fragte er, „dass sie Sachen überhöhen, die man eher mit gesundem Verstand betrachten sollte?“
Zachs Augen wanderten nach oben. Er suchte nach einem Beispiel. „Sowas wie Nationalstolz?“, gab er zurück.
„Gutes Beispiel“, konterte Max. „Und so aktuell. Aber ich meine auch auf anderen Ebenen. Beziehung zum Beispiel. Das wird so überhöht, im Ganzen und in Details. Die erste Liebe, die erste Beziehung, huiui“ – er unterstrich das Wort „huiui“, indem er mit der rechten Hand einen Wirbelsturm symbolisierte – „da muss alles nach dem Buch ablaufen. Oder die Partnerwahl. Der Prinz, der gesucht wird. Man darf nicht einfach Mensch sein, nein, man muss irgendwie überragend sein. Unbedingt. Ich war nie überragend. Ich war immer nur ich.“
„Was Dir vor Augen geführt wurde, als Claire sich nicht einmal mehr an Dich erinnerte“, stellte Zach fest.
Max nickte mit dem Kopf. „Ja. Die Tage und Abende, die wir zusammen verbracht haben, alles weg, alles ausgelöscht. Und doch, als wir uns wieder trafen, kamen wir gut miteinander klar. Wir haben uns beide weiter entwickelt, was nicht weiter verwunderlich ist, aber es wir hatten immer noch irgendwie die gleiche Wellenlänge. Wir hätten gute Freunde sein können.“
„Hätte können? Seid Ihr das nicht geworden?“
„Damit ist es jetzt wohl vorbei.“
„Warum?“
„Sie hat eine Nachricht ins Netzwerk gepostet, dass sie seit gestern in einer Beziehung ist.“
„Aber… nur weil Sie jetzt in einer Beziehung ist, heißt das doch noch lange nicht…“, begann Zach.
„Dass unsere Freundschaft beendet ist?“, unterbrach ihn Max. „Nein, aber das wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern. Sowas überlebt eine Freundschaft nie. Nicht nach meiner Erfahrung.“
„Na ja, aber solltest Du als Freund Dich dann nicht für sie freuen?“
„Oh, da sind wir ja wieder bei den Überhöhungen“, stellte Max fest. „Weißt Du, ein gewisser Teil unserer Gespräche, die wir in letzter Zeit hatten, ging darum, dass wir es beide satt hatten. Die Umwelt fordert ständig was von einem. Die Beziehung hat so und so zu sein. Man hat sich so und so zu verhalten. Und dies und jenes geht ja mal gar nicht. Wir hatten beide festgestellt, dass ein unglaubliches Anspruchsdenken auch innerhalb der Beziehungen entstanden ist. So wie bei meiner letzten. Erst fand sie mich offenbar toll, dann stellte sie fest, dass es Unterschiede gibt und dass sie mit den Unterschieden nicht leben kann, im Gegensatz zu mir. Claire ist es ähnlich gegangen. Wir stellten beide fest, dass wir zu viel mitgemacht hatten und außerdem ‚zu alt für den Mist‘ sind. Tja.“
Zach kratzte sich am Kopf. „Das sind eine Menge Dinge, die da bei Dir gerade aufeinander treffen.“
„Ja. Weißt Du, in letzter Zeit brauchte ich den Ausgleich, denn es wird mir alles zu viel. Zu viele dumme Menschen auf diesem Planeten. Und zu viele, die was von einem wollen. Die Treffen waren Inseln der Ruhe im Sturm des Lebens. Sieht so aus, als ob der Sturm nun auch diese Inseln erreicht hat. Und er hat sie leergefegt.“
„Ja, wir sind hier alle sehr stark eingespannt und so eine Freundschaft zu verlieren, ist tragisch“, bestätigte Zach und wollte seinen Freund aufmuntern: „Aber das heißt doch noch nichts. Halte doch einfach die Augen offen. Man weiß ja nie, was noch passiert. Andere Leute haben auch glückliche Beziehungen.“
Max schüttelte den Kopf. „Andere Leute“, bestätigte er, „nicht wir.“